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Der letzte Regent: Roman (German Edition)

Der letzte Regent: Roman (German Edition)

Titel: Der letzte Regent: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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waren es, die sie daran hinderten, die Astpfade zu verlassen. Laurania zeigte es ihnen einmal, als sie eine halb verfaulte Frucht nahm, die in einer von mehreren Zweigen gebildeten Mulde ruhte, und neben einen der grauweißen Stängel auf den Boden warf. Alle Rezeptoren in der Nähe gerieten in Bewegung, und nur wenige Sekunden später krochen an mehreren Stellen die amorphen Zellmassen von Verschlingern aus dem Moder und stülpten ihre schleimigen Mägen über die Frucht.
    »Sie sind langsam«, sagte Xavius. »Wir könnten laufen.«
    »Sie brauchen nicht schnell zu sein«, erwiderte Laurania. »Sie sind überall. In welche Richtung wir uns auch wenden, sie sind schon da. Dort unten würden wir keine fünf Minuten überleben.«
    Immer wieder mussten sie schwarzen Stacheln ausweichen, die einmal eine regelrechte Barriere vor ihnen bildeten und sie zwangen, eine Ebene nach oben zu klettern. Auf dem dortigen Baumpfad, bestehend aus Dutzenden von dünnen, ineinander verschlungenen Zweigen, erwartete sie eine schwach fluoreszierende ölige Flüssigkeit. Tiefe Kratzspuren zeigten sich in der Rinde eines nahen Baums, und neben ihnen klebte etwas, das sich bei näherem Hinsehen als ein blutiges Stück Fell erwies.
    Laurania verzog das Gesicht und leuchtete mit der Lampe. »Ein Raptor war hier«, sagte sie. »Vor höchstens zehn Minuten. Ich wusste nicht, dass sie so weit nach unten kommen, und das auch noch nachts. Sie sehen schlecht.«
    »Aber sie riechen gut.« Pribylla starrte in die Dunkelheit, die Waffe schussbereit in der Hand. Dann schaute sie wieder aufs Display des Navigators. »Wir sind zu langsam, Laura. Vandover und der Chronist, sie halten uns auf.«
    »Wir schaffen es zusammen zum Fluss«, erwiderte Laurania. »Beeilen wir uns.«
    Als sie den Weg fortsetzten, merkte Xavius, dass es im Wald nicht mehr still war. Er hörte nicht nur die Geräusche, die sie selbst verursachten, als sie über die Baumwege liefen, sondern auch die vielen Stimmen des Waldes: ein Zirpen hier, ein Zischeln und Raunen dort, ein seltsames Gackern und Schnattern, das manchmal aus allen Richtungen kam – und bei dem sich Xavius für einen Moment vorstellte, dass der Wald von Bluestone über sie lachte –, ein dumpfes Grunzen auf dieser Seite, ein plötzliches Kreischen einige Dutzend Meter weiter oben, gefolgt von einem Rascheln und Knistern, als etwas fiel, nicht weit von ihnen entfernt. Einmal knurrte und grollte es in der Dunkelheit, und als Xavius den Kopf drehte, sah er zwei glühende Augen in der Finsternis, und unter ihnen spitze Zähne.
    Fressen und gefressen werden: Das universelle Gesetz des Organischen herrschte auch hier, und doch konnten alle Lebensformen dieses Waldes, Pflanzen wie Tiere, in der Synchronizität einen höheren Daseinsstatus erreichen. Dann rückten Freund und Feind zusammen und wurden zu Komponenten eines Metaorganismus, der sich darauf konzentrierte, Fremdes zu eliminieren.
    »Wie ein Körper, dessen Immunsystem auf eingedrungene Bakterien reagiert«, sagte Xavius. »Die Reaktion beginnt langsam und wird, wenn sie ihre eigene ›Synchronizität‹ erreicht, immer heftiger.«
    »Ein Wald, der Fieber bekommt?«, brummte Vandover abfällig. Er hatte seine Jacke inzwischen ausgezogen und sich die Ärmel um die Hüften gebunden. Es war ziemlich warm, obwohl selbst am Tag kaum ein Sonnenstrahl diese Tiefen des Waldes erreichte, und an solche Temperaturen schien Vandover nicht gewöhnt zu sein, denn sein Hemd war verschwitzt. Ein kleines Geschöpf, das einer Schnecke ähnelte, hatte sich am Kragen festgesaugt, und Xavius beobachtete, wie es einen Stachel ausfuhr, offenbar mit der Absicht, ihn in den Nacken des Mannes zu bohren. Er schlug das Tier fort.
    »He!« Vandover drehte sich halb um.
    »Da hatte es jemand auf Ihr Blut abgesehen«, sagte Xavius und gab Vandover einen Stoß, damit er weiterging. Die nächsten Worte galten Laurania. »Ein faszinierendes Konglomerat an Lebensformen, groß wie eine ganze Welt. Seit wann gibt es Menschen auf Bluestone? Seit tausend Jahren?« Vielleicht, dachte er, konnte er irgendwann einmal – wenn alle Probleme gelöst waren – einen Bericht für das Mesh darüber verfassen.
    »Noch länger.«
    »Und ist dieser Wald jemals gründlich erforscht worden?«
    Weiter vorn schnaubte Pribylla und drückte mit einem abgebrochenen Zweig feucht glänzende Nesselfäden beiseite. »Das Endurium hat es verboten.«
    »Verboten?«, fragte Xavius erstaunt, und sein Chronass sagte: Sehr

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