Der letzte Regent: Roman (German Edition)
Selbstständigkeit des Chronass.
»Deshalb hast du mich nicht hierher gebracht«, sagte der Mann offen. Er bewegte sich auf der Koje, und Xavius hörte das Knistern der Decke, und ein Kratzen, als ein Schuh des Mannes über den Boden fuhr. Er beobachtete, wie das Materialgedächtnis der Koje aktiv wurde, wie sie dort ihre Form veränderte, wo das Gewicht des jetzt Sitzenden auf ihr lastete. Ein Gewicht, das gar nicht existierte, denn der Mann war nur in Xavius’ Wahrnehmung existent. Er saß allein in diesem Raum, umgeben von grauen Wänden, und sprach mit sich selbst, aber seine Sinne behaupteten, dass er Gesellschaft hatte, und sie behaupteten es mit Unterstützung vieler kleiner, überzeugender Details.
Es zeigt, was mit unseren Gehirnen – und unserem Bewusstsein – angestellt werden kann, dachte Xavius von Unbehagen begleitet. Jeder von uns kann dazu gebracht werden, etwas für real zu halten, das in Wirklichkeit Fiktion ist.
»Nein?«
»Nein. Du möchtest, dass ich dir Elvira und Timotius zeige.«
Unsinn, das möchte ich nicht, dachte Xavius, aber sein Mund war anderer Meinung. »Ja, zeig sie mir.«
Dort saßen sie, neben dem Mann in Blau: eine zierliche, puppenhafte Frau, fast albinotisch, wie viele Bewohner von Nottelunga, einer düsteren, kalten Welt voller Schatten unweit des Schlunds, an der Grenze des Enduriums, ihr Haar so blond, dass es fast weiß wirkte, die großen Augen grün wie Jade. Mit plötzlicher Deutlichkeit erinnerte sich Xavius an ihren Geruch, einen Hauch von Jasmin, am deutlichsten in ihrem Haar. Der Junge neben ihr war ebenso blass und fragil, und er zitterte, als wäre ihm kalt. Er hatte bereits das Fieber.
»Weg.« Xavius winkte. »Weg mit ihnen.«
Mutter und Kind verschwanden. Etwas in Xavius fühlte sich plötzlich hohl an.
»Sag es.« Er gestikulierte erneut, ohne dem Mann in die graugrünen Augen zu sehen. »Heraus damit.«
Der Chronass schwieg und wartete.
»Ich weiß, was du denkst. Wie könnte ich es nicht wissen? Du denkst, es ist meine Schuld, dass Timotius damals gestorben ist.«
»Es lag an seinen Genen. So wurde es festgestellt. Ein unheilbarer Defekt.«
Hervorgerufen und möglich gemacht von meiner Dummheit, dachte Xavius und starrte noch immer auf den ebenfalls grauen Boden, aus dem ein leises Summen kam: die Stimme des Transporters, der mit Überlichtgeschwindigkeit durch den Konnektorschlauch raste. Weil ich auf eine genetische Kontrolle verzichtet habe.
»Ich könnte herausfinden, wo sie sich aufhält«, sagte der Chronass. »Sobald ich wieder Zugang zum Mesh des Enduriums habe. Wenn wir Ratchford-Uyeda erreichen. Ich könnte herausfinden, wie es Elvira in den vergangenen dreißig Jahren ergangen ist und wo sie heute lebt.«
Aber warum sind überhaupt genetische Kontrollen nötig?, überlegte Xavius. Warum sterben Kinder, weil Gene nicht zusammenpassen?
»Dieser Mann, dieser Salyard …«
»Eugene V Salyard«, sagte der Chronass. »Er hat dir gefallen.«
»Wie konnte er von Elvira und Timotius wissen? Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich die Daten damals mit einer Privatsphären-Sperrung versehen.«
»Das bedeutet nicht viel. Es gibt nicht nur das Mesh und lokale Netze, sondern auch autonome, unabhängige Datenbanken auf verschiedenen Welten. Und von den Innovatoren heißt es, dass sie Regeln missachten und Codeschranken überwinden.«
Warum lassen wir das zu?, fragte sich Xavius mit plötzlichem Ärger und beschloss, einen entsprechenden Artikel für das Mesh zu verfassen. Vielleicht bot sich Gelegenheit dazu, wenn er General Izzads Biografie veröffentlichte. Warum erlauben wir Leuten wie Salyard, in unserer Mitte zu agieren und unsere Moral zu untergraben? Warum gestatten wir dem Zweifel, Wurzeln zu schlagen und uns zu schwächen wie eine Fäulnis, die sich langsam in uns ausbreitet? Verhandlungen mit den Ayunn? Lächerlich! Das hätten die Regenten längst versucht, wenn es möglich wäre.
»Hat er recht?«, fragte Xavius und ärgerte sich, dass er diese Frage stellte. Die Worte entschlüpften ihm, sie sprangen flink und geschickt durch die Lücke zwischen seinen Lippen, bevor er sie zurückhalten konnte.
»Womit?« Dass der Chronass diese Frage stellte, wies auf gute Fortschritte bei der Trennung der beiden Persönlichkeiten hin.
»Mit dem, was er über das Endurium gesagt hat.«
Der Mann auf der Koje zuckte die Schultern. »Machst du dir Sorgen, Xavis? Es sind einzelne Daten, aus dem Zusammenhang gerissen. Natürlich spielen die
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