Der letzte Regent: Roman (German Edition)
erhielt man die Länge des Schachtes: 19,739175456 Meter. In diesem Schacht mit Wänden glatter als Glas – ihre Oberfläche bestand aus einer monomolekularen Schicht mit sehr geringem Reibungswiderstand – erhob sich der Obelisk: unten so breit, dass ihn nur wenige Millimeter (3,14159 um ganz genau zu sein) von den Wänden trennten, sich nach oben hin verjüngend, bis zur Spitze, deren Durchmesser exakt 6,28318 Zentimeter betrug und die um denselben Wert über den Rand des Schachtes hinwegragte. Die Konstrukteure des Obelisken – eine der Alten Zivilisationen, vermutlich Spezies Drei – schienen von der Zahl Pi regelrecht besessen gewesen zu sein, und Xavius erinnerte sich an seine Gedanken, als er den Obelisken zum ersten Mal gesehen hatte, an seine Frage, ob jenen Letzten Alten die Quadratur des Kreises gelungen war.
Von der Basis bis zur Spitze war der pechschwarze Obelisk mit Symbolen bedeckt, und zwar, wie die Linguisten des Enduriums schon kurz nach seiner Entdeckung festgestellt hatten, nicht von einer bestimmten Auswahl an Zeichen, wie es bei vielen anderen Artefakten der Fall war. Spezies Drei hatte vielmehr alle 7119 bekannten Hieroglyphen dargestellt, in Gruppen, die sich in einem bestimmten Rhythmus wiederholten.
Xavius betrachtete den Obelisken nun mit den Augen eines imaginären Vogels, der über Krater und Schacht schwebte, während leise Musik erklang, von den Mikromaschinen seines Schwarms ausgewählt, um ihn zu entspannen. Er erinnerte sich an das seltsame Gefühl der eigenen Winzigkeit angesichts von Zeiträumen, die sich der menschlichen Vorstellungskraft, von Vivi wie von Morti, entzogen. Der Obelisk, so hatten die Morti-Wissenschaftler des Projekts herausgefunden, war neunhundertneunzig Millionen Jahre alt, ebenso der Schacht, in dem er steckte. Und das war seltsam genug, denn der Vulkan war mit hundert Millionen Jahren ein ganzes Stück jünger. Wie Schacht und Inhalt hierherkamen und viel älter sein konnten, als das Gestein, das sie enthielt, blieb ein ungelöstes Rätsel. Vor hundert Millionen Jahren hatte es, nach derzeitigem Erkenntnisstand, längst keine Letzten Alten mehr gegeben, und somit blieb als einzige Erklärung, dass Schacht und Obelisk sich tief in der Kruste von Armageddon befunden hatten, über Hunderte von Millionen Jahren hinweg, und schließlich bei der Entstehung des Vulkans mit dem Magma aufgestiegen waren.
An Rätseln mangelte es diesem Ort gewiss nicht. Zum Beispiel: Wieso hatte der starke Wind den inzwischen erloschenen Vulkan nicht längst abtragen? Gab es etwas, das ihn vor Erosion schützte? Und wie kam der Impulsgeber der Ayunn dorthin, obwohl sich ein archäologisches Lager in der Nähe befand und ein landender Changer den dort lebenden und arbeitenden Menschen zweifellos aufgefallen wäre?
Vor allem aber: Welche Verbindung gab es zwischen den Ayunn und dem Obelisken? Was wollte der Feind mit dem Signal bezwecken? Was versprach er sich davon?
Der Obelisk antwortete mit einem »Lied« – so nannten es die Linguisten und Xenoarchäologen: eine Abfolge von elektromagnetischen Impulsen, untermalt von einem »weißen Rauschen« im Gammastrahlenbereich, und einer phasenunabhängigen »Ulisses-Spitze«, die den Synchronisationssignalen von Konnektoren ähnelte –, das genau 3,14159 Sekunden dauerte und auf die Spitze des Cygnus-Arms der Milchstraße zielte, auf einen relativ leeren Bereich der Galaxis, viele tausend Lichtjahre entfernt. Es gab keine Konnektoren oder Superkonnektoren mit eingerichteten Transferrouten in die entsprechende Richtung, und deshalb erwog das wissenschaftliche Komitee des Verteidigungsrates, einen Mortus-Piloten mit einem speziellen Relativitätsschiff auf die Reise zu schicken, vielleicht auch noch ausgestattet mit einem kleinen Hochleistungskonnektor, der sich zwar nicht für Raumschiffe oder Personen eignete, mit dem aber Sensoren und Sonden über die galaktische Kluft geschickt werden konnten.
Wie viel gibt es dort draußen zu entdecken?, fragte sich Xavius und sank auf die Koje. Die Bilder der Wände folgten seinem Blick zur Decke, und die Illusion, einige Meter über dem Schacht mit dem Obelisken zu schweben, der wie ein schwarzer Finger auf ihn zeigte, blieb bestehen. Seine Gedanken tanzten und sprangen nicht mehr, wurden langsamer, krochen schließlich träge und entspannt, während er auf der Koje lag, das Gewicht des eigenen Körpers eine angenehme Schwere, die bald in Schlaf übergehen würde. Ein Blick in die Ewigkeit
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