Der letzte Regent: Roman (German Edition)
diesem wogenden Glühen, sprang zu einer der beiden Silhouetten vor dem Riss im Zylinderelement des Observatoriums und hielt sie mit Dutzenden Fingern aus scharlachrotem Licht fest. Eine Art Kopf bildete sich, darin mehrere Augen, die wie kleine Scheinwerfer strahlten. Ihr Licht durchdrang das Visier und beleuchtete ein Gesicht, das auf der einen Seite dunkel war und auf der anderen hell. Es zeigte keine Furcht, nur hilflosen Zorn, als Camaron versuchte, dem Gleißen zu entkommen, das sich immer heller in seinen großen Augen widerspiegelte …
Und dann begriff Xavius, dass es sich nicht um Reflexionen handelte. Ein Teil der Erscheinung, des Phantoms , befand sich nicht nur im Innern des Schutzanzugs, sondern auch in Camaron – das in den weit aufgerissenen Augen lodernde Licht kam nicht von außen, sondern von innen , und in seinem Schein zeigten sich Knochen, Adern, Nervenbahnen und Sehnen, wie von einem Kontrastmittel hervorgehoben. Es war ein kaltes Licht, wie der Glanz aus dem tiefen Herzen eines Gletschers. Linienmuster entstanden, auf der Nase, auf den beiden ungleichen Wangen, in den Augen, ihr Blick starr geworden, breiteten sich nicht nur im Gesicht hinter dem Visier aus, sondern auch im Material des Schutzanzugs.
Stimmen drangen aus Xavius’ Helmlautsprecher, aber er verstand sie nicht und beobachtete, wie Camaron immer mehr kristallisierte. Langsam schwebte er zum Rand des Risses im Hauptelement des Observatoriums, mit reglosen Armen und Beinen, und von dort ragte ihm ein Trümmerstück entgegen. Sirte versuchte, ihn vor einer Kollision zu bewahren; seine Manovratoren zündeten und spien kleine chemische Flammen, aber ihr Schub genügte nicht. Camaron, das seltsam ruhige Gesicht wie eine von winzigen Rissen durchzogene Maske, prallte gegen dunkles Metall und brach auseinander wie ein sprödes Stück Eis. Tausende von Splittern glitzerten im flackernden Licht der Funken, die zwischen ihnen hin und her sprangen und sich dann innerhalb von nur einer Sekunde zu einer Wolke vereinten, aus der so etwas wie eine Hand wuchs, die sich Sirte entgegenstreckte.
Einige der Worte, die aus dem Komm-Lautsprecher in Xavius’ Helm knisterten, bekamen einen Sinn.
»Lass das, Sirte, in den Schacht!«
Das war Laurania. Im Hintergrund erklang eine weitere Stimme, und sie sagte:
»Was ist bei euch los? Hörst du mich, Laura? Laura?«
Und dann: »Achtung, Schutzanzug undicht. Automatische Abdichtung nicht möglich.« Eine neutrale Stimme, die des Schutzanzugs, in dem Xavius steckte. Der warnende Hinweis wiederholte sich in Form von roten Buchstaben, die über den unteren Rand des Visiers wanderten.
»Hör auf, Sirte. Du kannst ihm nicht mehr helfen. Sirte, bist du übergeschnappt? «
»Was geschieht bei euch, Laura?« Das war wieder die vertraute Stimme, nicht mehr ganz so ruhig wie vorher.
»Ich erledige das verdammte Ding.«
»Nein, Sirte. Wenn du hier einen EMP …«
Es blitzte, und etwas packte Xavius, warf ihn an dem dunklen Objekt vorbei, das er eben mit dem Dolch eines Riesen verglichen hatte, schleuderte ihn gegen die Wand dahinter, mit solcher Wucht, dass ihm für einige Sekunden die Sinne schwanden. Als sich wieder ein Bild vor seinen Augen formte, präsentierte es ihm einen abgerissenen Arm, in zerfetztes Schutzanzugmaterial gehüllt und von kleinen roten Kugeln begleitet, Monden aus gefrorenem Blut.
Xavius stellte fest, dass er schneller atmete. Kritischer Druckabfall, teilte ihm ein weiterer Hinweis auf der Innenseite des Visiers mit. Der Schutzanzug sprach nicht zu ihm; vielleicht hatte er durch den Aufprall die Stimme verloren.
EMP, dachte Xavius. Damit war vermutlich ein elektromagnetischer Puls gemeint. Sirte schien eine Waffe gegen das Phantom eingesetzt zu haben, und offenbar war es dadurch zu einer Explosion gekommen. Die energetische Druckwelle hatte nicht nur Xavius erfasst, sondern auch die Trümmer im Innern des breiten Risses. Einige von ihnen waren noch immer in Bewegung und flogen umher, von Kollisionen immer wieder auf neue Flugbahnen gebracht; andere waren ineinander verkeilt, zu neuen Schatten und Schemen erstarrt.
Wem gehörte der Arm?, dachte Xavius und sah ihm hinterher, als er durch die Düsternis davonschwebte. Sirte oder Laurania?
Er wollte ein Rufsignal senden, doch Vernunft hielt ihn im letzten Moment davon ab und sorgte dafür, dass die rechte Hand zum Gürtel tastete und das Kommunikationssystem deaktivierte. Draußen, etwa fünfzig Meter entfernt, tanzte noch immer
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