Der letzte Regent: Roman (German Edition)
ihnen. Er weiß, und er fühlt: Irgendwo brennt ein Feuer, verursacht von etwas, das in einen Ameisenhaufen fiel; irgendwo rollen silbergraue Wellen an einen schwarzen Strand, hinter ihnen das Gewicht eines Meeres, das größer ist als der größte Ozean, den er je gesehen hat. Und irgendwo gibt es zwei andere Hände: Sie liegen nicht auf seinen eigenen, die in einer anderen Welt versuchen, zitternde Knie festzuhalten, sondern stecken in den Handschuhen eines Schutzanzugs. Er sucht sie im silbernen Glanz, der ihn umgibt, und schließlich fällt ihm etwas auf, vage Konturen in all dem Leuchten, die Umrisse einer Gestalt. Jemand liegt dort, das bleiche Gesicht nicht mehr hinter dem blutverschmierten Visier eines Helms. Es ist ein schmerzvolles Gesicht, von Leid gezeichnet, die Augen – die offenen Augen – sind gerötet, und die Stimme klingt sehr schwach: »Telemetrie.«
»Was?« Xavius sinkt neben der Frau auf die Knie und fragt sich, ob sie hier wirklich vor ihm liegt.
»Unsere Telemetrie … senden und empfangen …« Lauranias Hand tastet nach den Kontrollen an ihrem Instrumentengürtel.
»Ich verstehe nicht«, erwidert Xavius hilflos. »Was wollen Sie mir sagen?«
»Peilung … wenn sie noch da sind … die anderen … wie viel Zeit …«
»Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist. Ich habe nicht die geringste Ahnung!«
Laurania versucht, den Kopf zu heben, aber er ist zu schwer, es kostet sie zu viel Kraft, deshalb lässt sie ihn wieder sinken. »Die anderen … wenn sie noch da sind … empfangen unsere Telemetrie … schicken … Stabilisierungssignal.«
»Haben Sie nicht gehört? Der Mann … Er sprach davon, dass sie nichts mehr von uns empfangen, nicht einmal Telemetrie!«
Aber Laurania hat wieder die Augen geschlossen, und seine Worte erreichen sie nicht.
Dort kniet Xavius, neben der Frau, die erneut das Bewusstsein verloren hat, blickt ins perlmuttfarbene, glänzende Nichts und beobachtet, wie erste Türen erscheinen. Das geschieht oft, wenn er den Blick lange genug auf eine Stelle gerichtet hält. Dann bilden sich grauschwarze Linien im silbernen Leuchten, die Farbe von Obsidian, die ihn an etwas erinnert. Und wenn er noch etwas länger geduldig bleibt, werden aus den Linien die Umrisse von Türen. Geduld, das scheint hier nötig zu sein, den Blick auf die richtige Stelle zu richten und zu warten.
Aber wenn er zu lange wartet, könnte die Frau sterben, die hier vor ihm liegt. Er betätigt die Schaltelemente ihres Instrumentengürtels, aktiviert so viele Systeme des Schutzanzugs wie möglich und hofft, dass eins dieser Systeme telemetrische Signale senden und vielleicht auch empfangen kann. Dann schiebt er die Arme unter Laurania, hebt sie vorsichtig hoch – wie leicht sie ist, sie scheint fast gar nichts zu wiegen – und geht mit ihr zur nächsten Tür.
21
Hier ist das Geheimnis, das es zu hüten gilt, Schuld und Wahrheit, eng miteinander verwoben. Marta darf es nicht erfahren, nie.
Die Gruppe hatte sich aufgeteilt, in kleinere Gruppen; manche von ihnen waren allein unterwegs, jede mit einem Ziel, jede mit einer klar umrissenen Aufgabe. Die einen: der Weg zum Schiff. Die anderen: Vorbereitungen für den Kettenbrand und Ablenkung der Wachen, ein falscher Alarm. Und er …
Er kannte seine Aufgabe, er wusste genau, was er tun sollte, aber hier, in diesem Zustand, in der »Phase«, wie sie es nannten, fiel es ihm schwer, daran zu denken und sich zu erinnern. Er bewegte sich durch eine wie aufgelöste Welt, und selbst seine Gedanken schienen aufgelöst zu sein, nur noch in Form von Fragmenten zu existieren. Aber das war nicht wichtig. In diesem Zustand, in dieser Phase , konnte ihn niemand sehen – das war wichtig. Dass ihn die Zersplitterung des Denkens und Fühlens vor Zweifel und Furcht bewahrte … umso besser. Es machte alles ein bisschen leichter.
Er verharrte am dritten vorgesehenen Orientierungspunkt, so tief im Innern eines Segments aus Polymerkeramik, dass nur sein Gesicht herausragte, und etwas weiter unten die Hände mit dem PhaMo, wie sie ihn nannten, dem Phasenmodifikator. Es war keine menschliche Kreativität, die dieses Gerät entwickelt hatte, das es ihm erlaubte, unentdeckt zu bleiben, obwohl Soldaten durch den Flur eilten, Angehörige der Garde, alarmiert von einem Ablenkungsmanöver. Die Technik der Phasenverschiebung stammte von den Ayunn und war nicht das einzige Hilfsmittel, auf das sie zurückgreifen konnten. Ohne Tricks dieser Art wäre ihr Plan von vorneherein
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