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Der letzte Regent: Roman (German Edition)

Der letzte Regent: Roman (German Edition)

Titel: Der letzte Regent: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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er ihn in den letzten zweitausend Jahren nur selten erlebt hatte. Er erinnerte sich nicht nur an seinen Namen – er hieß Rudolph Allan Zayac und war ProfDr gewesen, ein Professor und ein Doktor –, und deshalb erkannte er in diesem Moment der Klarheit: Er benutzte nicht, sondern wurde benutzt; er kontrollierte nicht, sondern wurde kontrolliert.
    Er war ein Werkzeug, ein Instrument, und vielleicht – hier blieben die Erinnerungen verschwommen – hatte er sich selbst dazu gemacht. Sein Wissen und seine Kenntnisse befanden sich bei den Sechsundzwanzig anderen im »Tank« hinter dem mit Nährgel gefüllten Sarkophag, im Oval aus Synthium Neun, bei den Männern und Frauen, die bei der damaligen Katastrophe ihre Körper verloren hatten und nur noch in Form einer quantenmechanischen Codierung existierten. Die Frage, was ihn benutzte und kontrollierte, ließ sich leicht beantworten: die KI-Systeme in der Stillen Stadt; sie steuerten seine Verbindung mit dem, was sich im Schrein unter der Pyramide befand. Aber dahinter gab es noch etwas anderes, einen prägenden, bestimmenden und lenkenden Faktor, der plötzlich fehlte. Vielleicht war es dieses Fehlen, dem er die Klarheit verdankte.
    Er sah das ganze Bild, nicht nur einen Teil davon, und was er sah, stimmte ihn traurig. Natürlich reagierten sofort die von seinem Willen unabhängigen automatischen Kompensationssysteme des Sarkophags, stimulierten bestimmte neuronale Cluster seines Gehirns und dämpften die Aktivität von anderen, um die emotionale Balance wiederherzustellen. Aber während des emotionalen Ungleichgewichts gab es Platz für einen Gedanken. Dies ist die falsche Welt, lautete er. Wir befinden uns in der falschen Welt.
    Etwas weckte seine Aufmerksamkeit. Eine Veränderung erfasste die Phalanx. Sie veränderte sich immer, allein durch die ständigen Bewegungen ihrer einzelnen Komponenten, aber diesmal bewegten sich ihre Muster – noch auf eine so subtile Weise, dass die meisten Morti nichts davon merkten. Zayac ahnte die Entstehung eines neuen Grundmusters voraus, und das konnte nur bedeuten …
    Der Regent existierte nicht mehr.
    Aber … die Schockwelle blieb aus. Es kam in der Phalanx nicht zu den heftigen Erschütterungen, die vor Jahrhunderten das Ende der anderen Regenten ausgelöst hatte. Die schwere Mitte verschwand, doch alles drehte sich weiter um sie, als hätte etwas anderes, fast ebenso Schweres ihren Platz eingenommen. Die Sonne fehlte, vom Nichts gestohlen, doch etwas hielt die Planeten auf ihren Bahnen, ein Attraktor ebenso geheimnisvoll wie die in Raum und Zeit verstreuten RIT-Attraktoren.
    Die KI kam zu ihm, sanft und fremd, ihre Gedanken kälter als die der ältesten Morti, und nahm ihm die Klarheit. Nur die Aufgabe ist wichtig, sagte sie, und damit hatte sie zweifellos recht.
    Etwas hat die Phalanx vorbereitet, dachte er noch, bevor die Klarheit schwand. Etwas hat sie auf das Ende des Regenten vorbereitet. Stand das neue Grundmuster, das sich vage in den alten Mustern abzuzeichnen begann, damit in Zusammenhang?
    Nur die Aufgabe ist wichtig, sagte die KI mit etwas mehr Nachdruck.
    Ja, antwortete ProfDr Rudolph Allan Zayac und vergaß alles andere, auch seinen Namen.
    Aber mit den Augen und Ohren der Stillen Stadt sah und hörte er ein Gespräch, das zwischen zwei hochrangigen Morti stattfand, dem gerade mit einem Shuttle eingetroffenen Vorsitzenden des Gremiums Quintus M Quiron und Seace M Selena, Promotoria und Hüterin der Phalanx auf der Erde.
    »Ich bedauere sehr, was geschehen ist, Vorsitzender«, sagte Seace.
    »Ich bedauere es nicht weniger als Sie, Promotoria. Die Phalanx bleibt stabil. Dafür haben wir gesorgt«, erwiderte Quiron.
    Zayac wusste nicht, wo das Gespräch stattfand, denn sein Fokus kehrte bereits zum Schrein zurück, zu einem anderen »Schläfer«, der vielleicht nie einen Namen gehabt hatte, zumindest keinen, mit dem er etwas anfangen konnte. Als er zu dem Etwas zurückkehrte, erinnerte er sich plötzlich an den Grund für das Vergessen. Es war eine Maßnahme, die seinem Schutz diente, denn in dem Etwas unter der schwarzen Pyramide erwarteten ihn wirre Träume, bestimmt von Schmerz und unendlichem Leid. Die KI half ihm zu vergessen, damit ihn das Leid bei der Rückkehr verließ.
    »Sie wird nicht lange stabil bleiben«, sagte die Promotoria der Stillen Stadt. Ihre Stimme wurde leiser, als Zayac in den Schmerz des Schreins eintauchte und ihn zu seinem eigenen machte. »Der Schläfer kann die Lücke nicht auf Dauer

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