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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian von Aster
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Kindes. Sein Geist jedoch hatte, da er nunmehr mit den Schatten zu sprechen verstand, abseits von Wort und Schrift das Wissen und die Erfahrung von Generationen in sich aufgenommen.
    Doch nichts von alldem ahnte oder erkannte seine Mutter.
    Stattdessen glaubte sie, dass Jonas, da er sich nicht wie andere Kinder seines Alters benahm, unter einer Krankheit des Geistes oder der Nerven leide.
    Für das Verhalten eines Sprösslings, das dem der anderen nicht gleicht, haben die Menschen viele Namen. Ihre Herkunft reicht vom Lateinischen bis ins Angelsächsische, und sie bezeichnen dabei allesamt irgendeine Krankheit, was impliziert, dass Andersartigkeit an sich auf die eine oder andere Art zu heilen wäre.
    Die Mutter meines Herrn konsultierte einen Mann, der in der Tradition des berühmten Wiener Analytikers Sigmund Freud stand und sich dafür bezahlen ließ, dass er ihr zuhörte. Jedenfalls, bis er mit ihr zu schlafen begann und beide mit einem Mal kaum noch von meinem Herrn und seiner vermeintlichen Krankheit sprachen. Als aber bald darauf auch jener Mann sie verließ, da entsann Ruth sich wieder des Leides meines Herrn …
    Setzte sie Jonas zu anderen Kindern, dann schwieg er und starrte wortlos auf mich, seinen Schatten, hinab.
    Wie seltsam muss einem Menschen, der nicht ahnt, was wir zu geben haben, ein solches Verhalten erscheinen …
    Ich derweil offenbarte meinem Schützling, wovon nur die wenigsten wissen. So zeigte ich ihm etwa das Querkraut, das eure Gelehrten einst herba transversa nannten, jenes Gewächs, über das schon Paracelsus in seinem Paramirum schrieb, dass sein Saft die beste Arznei zur Heilung ermatteter Schatten wäre. Ich führte meinen Herren in den entlegenen Teil des wuchernden Gartens hinter dem Haus, das seine Großeltern bezahlt hatten. Und dort zeigte ich ihm, womit schon Paracelsus lahmende Schatten geheilt hatte. Und wie staunte der Knabe, als er sah, welche Eigenart dem Querkraut innewohnt! Es war ein Gras mit dünnen rötlichen Halmen, die vergleichsweise kurz wuchsen und dabei inmitten einer Wiese nicht weiter auffielen. Erst wenn man sie aus der Nähe beschaute – so, wie ich es nun meinen Herren tun ließ –, bemerkte man, dass ihre Schatten nicht von der Sonne weg, sondern zu ihr hin fielen. Seit Urzeiten trotzte das Querkraut auf diese Weise den Naturgesetzen. Staunend hockte Jonas Mandelbrodt dort zwischen den Büschen und sah, wie die Schatten jenes Grases anders fielen als die übrigen Schatten. Und, wohl nicht zuletzt weil es ihn an ihn selbst erinnerte, bedauerte er jenes Gewächs, da es sich doch von allen umstehenden unterschied.
    Seine Mutter wurde nicht müde, ihren Sohn in Sandkästen, auf Spielplätze, in Kaufhäuser und vor Glaskästen mit bewegten Bildern zu setzen. Was auch immer sie aber versuchte, er starrte zu Boden und schwieg.
    Tatsächlich schwieg Jonas Mandelbrodt in jenen frühen Jahren seines Lebens mehr, als dass er sprach. Lange fragte seine Mutter sich sogar, ob er überhaupt richtig sprechen konnte.
    Darüber, was ein Kind wann sagen können sollte, gibt es in der Welt eine Vielzahl von Meinungen. Vor allem von solchen Menschen, die sich in allerlei Büchern über Jahre vor dem Leben verstecken, um sich am Ende dann studiert nennen zu können. Und weil Jonas’ Mutter einige Bücher jener Studierten gelesen hatte, litt auch sie selbst bald unter dem vermeintlichen Leiden ihres Sohnes, jenes Kindes, das, weil es mehr wusste und anders dachte als andere Kinder, fremd schien in der Welt. Die Ärzte, die sie konsultierte, hatten jedoch andere Bücher als sie gelesen. Und da der Junge ihnen gesund erschien, schickten sie Ruth wieder fort. Bis schließlich einer von ihnen es wagte, dem stummen Schattenstarren Jonas Mandelbrodts einen Namen zu geben. Einen Namen, der wieder einem anderen Buch entstammte. Noch immer spüre ich die wenigen Worten jenes Arztes, welche das Leid der Mutter meines Herrn besiegelten. In der Sprache der Gelehrten, die das Privileg der Studien genossen hatten, einer Sprache, die – heute wie vor vielen Hunderten von Jahren schon – nicht die der gewöhnlichen Menschen ist.
    »Meine liebe Frau Mandelbrodt, auch wenn meine Kollegen sich nicht festlegen wollten, denke ich doch nunmehr nach eingehender Beobachtung ihres Sohnes zu wissen, worunter er leidet.«
    Und Ruth hoffte auf eine Antwort, die ihr die Last der Ungewissheit von den Schultern nehmen würde.
    »Was ist es, Herr Doktor? Kann man es … operieren? Ist es möglich, dass

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