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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian von Aster
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der Kunst des Schattenschnitzens. Statt aber zu akzeptieren, dass manche Dinge geschaffen waren, anders zu sein, machte Jonas sich traurig von neuem daran, die Schatten des Querkrauts von der Sonne fortzubiegen.
    Dank mir würde er bald alles wissen, was einem Menschen zu wissen gegeben war. Doch er war auch immer noch ein Kind und musste es bis zu dem Zeitpunkt sein, da er es eines Tages nicht mehr wäre.
    Dass ich niemals die Gelegenheit bekommen würde, ihn erwachsen werden zu sehen, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass am Ende ich es sein würde, der für sein allzu frühes Ende verantwortlich war …

    Mitten im Frühling, kurz nachdem Jonas Mandelbrodt seinen vierten Geburtstag gefeiert hatte, begann die Welt der Schatten sich zu verändern. An diesem warmen Tag verließen nur wenige Leute in Kutna Hora den Zug.
    Während der Saison war die Stadt eines der beliebtesten Ausflugsziele des Landes. Eine wahre Goldgrube für den Fremdenverkehr.
    Die Saison aber würde erst in einigen Wochen beginnen, und die kleine tschechische Stadt, eine knappe Bahnstunde östlich von Prag, war noch nicht aus ihrem Winterschlaf erwacht. So waren es vor allem Pendler, die den Zug an diesem Montagmittag verließen. Der Bahnsteig leerte sich schnell, und die davoneilenden Menschen eröffneten den Blick auf die Auslagen des Bahnhofskiosks, die sich kaum von denen Bochums oder Manchesters unterschieden. Auf seine Art war Kutna Hora längst in Europa angekommen. Mit Beginn der Saison würden die Preise in der Gegend auf Touristenniveau angehoben werden, und das Einzige, was dann noch günstig zu haben sein würde, war Bier. Und das auch nur, weil die Tschechen es als Grundnahrungsmittel betrachten …
    Noch aber war es nicht so weit. Gelassen ruhte die Stadt, der man ihren einstigen Reichtum aus den Tagen, als man in der Gegend noch Silber abgebaut hatte und Münzen geprägt worden waren, kaum noch ansah, unter den milden Strahlen der Frühlingssonne. Gerade erst hatte sie den letzten Schnee abgeschüttelt, und nun sammelte sie Kraft, um den Touristen zu trotzen. Die kamen vor allem des Beinhauses wegen, einer Kapelle, in der die Knochen von mehr als 10.000 Menschen der Legende zufolge von einem blinden Mönch zu Kronleuchtern, Wappen und Wandschmuck verarbeitet worden waren. Manche kamen der Architektur, der gotischen Prachtbauten wegen, die noch an die Zeit erinnerten, als Kutna Hora die zweitwichtigste Stadt des Reiches gewesen war. Und wieder andere kamen der Museen wegen, von denen man in der Stadt ein halbes Dutzend finden konnte. Für Touristen gab es jedenfalls ausreichend Gründe, während der Saison die überteuerten Preise zu bezahlen. Und genau das würden sie in wenigen Wochen, sobald die Bäume sich dazu durchgerungen hatten, von neuem zu blühen, auch wieder tun.
    Vereinzelt erreichten sie den Ort aber auch schon früher. Auf den ersten Blick hätte man wohl auch den Mann, der den Zug in diesem Augenblick mit den tschechischen Pendlern verließ, für einen Touristen gehalten. Sein Gesicht lag im Schatten eines breitkrempigen schwarzen Bogarthutes. Er war mittelgroß, trug eine kleine runde Brille mit Silberrand, einen Rucksack und eine dunkle Allwetterjacke, unter der man seine muskulöse Statur nur erahnen konnte. Er wirkte müde, was vor allem daran lag, dass er, kaum aus dem Flugzeug gestiegen, den ersten Zug Richtung Osten genommen hatte. Doch er hatte nicht vor, unnötig Zeit zu verlieren. Nicht jetzt, wo sein Ziel in greifbare Nähe gerückt war.
    Die blassgrauen Augen hinter der Brille wirkten teilnahmslos. Beiläufig musterten sie die Umgebung und maßen den Passanten ebenso wenig Zeit zu wie den gotischen Prachtbauten. Er war nicht hier, um zu staunen. Hinter seinem gleichgültigen Blick aber verbarg sich eine immense Anspannung. Der Mann wusste, dass sich innerhalb der kommenden halben Stunde sein Schicksal entscheiden würde. Und er war zu allem bereit. Denn sein Schicksal war das größte Rätsel, das er überhaupt kannte.
    Er wusste beinahe nichts über seine Herkunft. Er war unter mysteriösen Umständen geboren und ausgesetzt worden. Lediglich der Name, der in seinen Nacken tätowiert worden war, sowie die beinahe vergessenen magischen Zeichen auf seinen Armen waren ihm aus jener unbekannten Vergangenheit geblieben. Er hatte sich mehr als einmal gefragt, was für Menschen wohl ein zweijähriges Kind tätowierten.
    Bei genauerem Hinsehen war deutlich zu erkennen, dass

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