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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian von Aster
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Jonas ein ganz normales …«
    »Hier, fürchte ich, muss ich Sie enttäuschen. Ihr Sohn leidet ganz offensichtlich unter einer Entwicklungsstörung, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch als unheilbar gilt und seine Sozialisation erheblich erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht.«
    Das Einzige, was Ruth in diesem Moment begriff, war, dass ihre Hoffnung auf ein gewöhnliches Leben zerbrach.
    »Was aber bedeutet das genau, Herr Doktor?«
    »Wissen Sie, ich habe einige Bücher über diese Krankheit geschrieben. Sie ist mein Spezialgebiet, weshalb ich mir an dieser Stelle ein sichereres Urteil als die Kollegen erlauben kann. Nach allen mir vorliegenden Fakten und Erkenntnissen komme ich zu dem Schluss, dass ihr Sohn unter dem sogenannten Asperger-Syndrom leidet.«
    Als jener Mediziner diese Worte aussprach, hatte ich das Gefühl, dass es an ihrer statt auch jede andere Bezeichnung hätte sein können. Als ob er diese wählte, nur um überhaupt etwas zu sagen. Jonas’ Mutter aber nahm es stillschweigend hin. Zwei Worte, die ihr so fremd waren wie die gesamte Sprache der Gelehrten, die sie aber unwiederbringlich von dem Leben trennten, das sie einmal hatte führen wollen. Mit einem Mann, einem Kind, einem Haus und einem Garten. Ohne ihre Eltern und ohne eine Krankheit, die sie nicht verstand. Und schuld daran war Jonas, den sie immer nur hatte lieben wollen …
    Basierend auf jenem Urteil eines eurer Gelehrten nannte man meinen Herren fortan einen Autisten. Von diesem Tag an saß er jeden Donnerstag in einem Kreis mit Kindern, die wie er auf ihre Schatten stierten, ohne dabei jedoch deren Sprache zu sprechen. Und während sie selbst nicht wussten, dass sie überhaupt litten, klagten im Nebenzimmer die Eltern über das Leid ihrer Kinder.
    Wie wenig versteht doch der Mensch die Magie dessen, was er letztendlich aus Ermangelung besserer Namen Krankheit nennt.
    Schon Alexander der Große war, wie auch Cäsar und Napoleon, mit etwas gesegnet, das man in jenen Tagen als göttliche Gabe verstand – lange bevor man es Epilepsie zu nennen begann. Und welch wundersame Ironie scheint es dabei, dass auch Hippokrates, der euch doch als Vater der Medizin gilt, jener Gabe teilhaftig war, die ihr am Ende als Krankheit bezeichnen solltet …
    In allem, was in euren Organismus, eure Welt eindringt, liegt – wie ich nun und nach Tausenden von Jahren zu euren Füßen zu behaupten wage – ein Sinn. Die Bedeutung aber, die ihr eurer eigenen Art zumesst, scheint es nicht zuzulassen, Pest, Cholera und all die Seuchen im Gefolge eurer Zivilisation für mehr als bloße Krankheiten zu halten, welche die Eitelkeit eurer Existenz bedrohen.
    Ich sah große Geister an jenen sogenannten Krankheiten sterben. Und jene, die zu begreifen imstande waren, erfassten in dem Moment, da der Tod gekommen war, Schweiß, Blut, Eiter und Auswurf zum Trotz, den Sinn in dem, was alle anderen Krankheit nannten!
    Die wenigsten aber sind fähig, derlei zu verstehen.
    Und eben darum galt Jonas Mandelbrodt fortan als krank.
    In euren alten Mythen sind jene Andersartigen, die Erwachten, noch die Wächter der Welt. Sie stehen an ihren Toren, sprechen die Sprache des Windes, des Blitzes, der Tiere und Schatten. Eure jungen Mythen aber machen diese Menschen zu Ketzern, die von Göttern – nicht halb so alt wie die ältesten – verurteilt und gerichtet wurden.
    All das erklärte ich Jonas Mandelbrodt.
    Ich lehrte ihn wach sein und wahrhaftig, zu wissen und zu werden und mit den Dingen umzugehen, die sich hinter den Dingen verbergen.
    Und zuletzt lehrte ich ihn das Schattenschnitzen. Jene fast vergessene Kunst vom Rande der Nacht, die ihre Meister zu Herren über das Abbild macht. Jenes wundersame Handwerk, das die Schatten der Welt mit Leben und dem Willen ihrer Meister erfüllt.
    Und auch dies lernte Jonas Mandelbrodt mit Hingabe. Was immer er seiner Außenwelt an Aufmerksamkeit verwehrte, das schenkte er mir, und er erprobte, wo immer es ging, alles, was ich ihn lehrte. Kaum dass mein Herr die Grundkenntnisse des Schattenschnitzens erlernt hatte und kleine Schatten zu verändern wusste, da sah ich ihn in den hinteren Teil des Gartens eilen, wo er begann, die Schatten des Querkrauts von der Sonne fortzudrehen, damit jene Pflanze nicht länger dazu verflucht war, anders zu sein. Halm um Halm, Stunde um Stunde sah ich ihn, einen Schatten nach dem nächsten drehen …
    Am nächsten Tag aber wiesen sie alle wieder zur Sonne, denn mein Herr war noch lange kein Meister in

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