Der letzte Schattenschnitzer
Schatten plötzlich da gewesen, wie aus dem Nichts. Schatten reisten schnell und unsichtbar, rasten lautlos durch die dunklen Fugen und Risse des Sichtbaren. Und dabei folgten sie ihren eigenen Gesetzen. Oder zumindest denen derer, die sie lenkten. Blitzschnell hatte der fremde Schatten ihm seinen eigenen vom Körper abgerissen und dessen Platz eingenommen. Seitdem folgte er ihm. Und dort, wo jener fremde Schatten ihn berührte, glaubte der Mann, die vage Ahnung eines fremden Willens pulsieren zu spüren.
Vorsichtig ertastete er den Griff des Messers in seinem Stiefelschaft. Bevor er in den Zug nach Kutna Hora gestiegen war, hatte er es sich auf Geheiß seines Herrn unweit des Bahnhofes gekauft. Er hatte die Bücher der großen Satanisten gelesen. Bücher von Männern, die jederzeit bereit gewesen waren, ein Menschenleben für Macht oder Lust zu opfern. Er selbst aber hatte noch nie jemanden auch nur verletzt. Doch er war bereit, es zu tun. Sobald sein Herr ihm den Befehl dazu gab.
Nachdem er seine Hose wieder über den Messergriff gezogen hatte, fasste er in die Innentasche seiner Jacke und zog einen zerknitterten Umschlag hervor. Die letzte anonyme Botschaft seines neuen Herrn. Im Umschlag steckte ein Stück Papier, alt und brüchig, ganz offensichtlich war es ohne besondere Vorsicht irgendwo herausgerissen worden. Die erste Seite eines Buches, mit einem Titel in alter Schrift darauf, der ihm sehr wohl bekannt war. George Ripleys The Compound of Alchemy . Doch es war nicht eigentlich das Buch, um das es bei seinem Besuch in dieser Stadt ging. Das Blatt, das der Mann in Händen hielt, entstammte vielmehr einer ganz besonderen Ausgabe. Und das letzte existierende Exemplar hatte, bis es vor einigen Jahren auf der ominösen Liste eines Londoner Anwalts aufgetaucht war, als verschollen gegolten. Das Vorsatzblatt dieser Version, das der Mann mit der silbernen Brille nun aufmerksam betrachtete, zierte ein Kupferstich, auf dem der Arbeitstisch eines Alchemisten zu erkennen war. Mit gläsernem Kolben, Mörser und Stößel sowie verschiedenen, lateinisch beschriftete Behältnissen darauf. Er zog einen zweiten Zettel hervor. Es war der Ausdruck eines Bildes aus dem Internet. Auf dem Foto war derselbe Tisch zu erkennen. Und darunter stand, direkt neben der Adresse der Website: Im Alchemiemuseum in Kutna Hora ist ein geschichtsträchtiges Möbelstück aus dem frühen 18. Jahrhundert zu bewundern: der Tisch Johann Friedrich Böttgers, des Erfinders des Porzellans.
Während der Fahrer seinen verschrammten Volvo durch die engen Straßen Kutna Horas manövrierte, hielt der Mann auf dem Rücksitz die beiden Bilder nebeneinander. Er verglich die Tische noch einmal, wobei es ihn leicht schauderte. In dem Bestreben, ihren Besuchern etwas zu bieten, ahnten die Betreiber dieses Museum nicht einmal, was sich tatsächlich in ihrem Besitz befand …
Als sie das Museum erreichten, hatte der Fahrer längst beschlossen, sich jede weitere Freundlichkeit zu sparen. Er hielt an, ließ den Fremden aussteigen und fuhr dann, ohne sich noch einmal umzusehen, mit quietschenden Reifen davon.
Ohne eine erkennbare Regung im Gesicht betrachtete der Mann das Gebäude, vor dem er nun stand. Unter normalen Umständen hätte man hier kein Museum vermutet. Auf dem Schild neben der Tür aber war das gleiche Logo wie im Internet zu erkennen: drei Schlangen, die sich aus drei Herzen hervorschälten, um das jeweils nächstgelegene wieder zu verschlingen. Um sie herum prangte der Schriftzug: MUZEUM ALCHYMIE – KUTNA HORA. Und direkt darüber ein ungleich prosaischeres Schild: TOURIST INFO.
Er hatte gewusst, dass das Museum im selben Gebäude wie die Touristeninformation untergebracht war, das nichts von der vielbesungenen Pracht der städtischen Architektur besaß. Beim hiesigen Alchemiemuseum handelte es sich vielmehr um eines dieser improvisierten Museen, wie es allein in Prag Dutzende gab und in denen es um mittelalterliche Folterinstrumente, Hexenverbrennung und andere Grausamkeiten ging. Man konnte schnell das Gefühl gewinnen, dass jeder, der das Wort Museum schreiben konnte, auch eines eröffnete.
Er selbst hatte keines dieser sogenannten Museen jemals betreten. Und ihm graute vor den Exponaten, die ihn hinter dieser Tür erwarteten.
Er zog seinen Hut tiefer ins Gesicht, zurrte seinen Rucksack zurecht und stieg dann die Stufen zum Museum empor.
Kaum dass das fleckige kleine Kupferglöckchen hinter der Eingangstür ihn angekündigt hatte,
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