Der letzte Schattenschnitzer
entdeckte er einen flugblattbeschwerten Tresen und dahinter eine kleine alte Frau, die ihr selbstgemaltes Namensschild als eine gewisse Bozena auswies. Sie war vielleicht 1,60 Meter groß – vermutlich etwas eingegangen während der letzten siebzig Jahre – und rauchte eine billige tschechische Zigarette. Im Tabakdunst und dem schlechten Licht des Vorraumes hatte ihr Gesicht das Grau einer alten Zeitung, in der ihre Falten wie alte Schlagzeilen prangten. Sie starrte in einen kleinen Schwarzweißfernseher, auf dem eine schlecht synchronisierte, spanische Telenovela lief. Daneben brummte in seiner Ladestation leise ein Funkgerät. Als Bozena den Neuankömmling bemerkte, blickte sie kurz auf, drückte ihre Zigarette aus und schaute ihr Gegenüber fragend und mit müden Augen an.
»Guten Tag. Wie kann ich Ihnen helfen?« Ihr Englisch wirkte korrekt, aber einstudiert. Vermutlich war es einer von vierzig Sätzen, die sie gelernt hatte und die ausreichten, wenn man sich mit Leuten unterhielt, die nur ins Beinhaus, ins Museum und auf die Toilette wollten. Und auch für seine Belange würde es reichen.
»Das Museum.« Er schnippte eine Fünfzigkronenmünze in das vor ihr stehende Schälchen, und Bozena riss für ihn eine Eintrittskarte ab.
»Im zweiten Stock Sie finden das Museum. Im Keller die Alchemistenwerkstatt. Fotoerlaubnis vierzig Kronen. Wenn Sie Fragen haben, Masha und Pasha helfen gern. Viel Vergnügen.«
Bevor sie sich wieder wegdrehen konnte, hielt er ihr das ausgedruckte Bild des Tisches unter die Nase. Die Alte nickte in Richtung der schmalen Wendeltreppe, die einige Meter entfernt in den Keller führte, und wandte sich dann wieder ihrem Fernseher zu. Der Mann senkte den Blick und schaute sich um. Neben den Flugblättern auf dem Tresen lagen verblichene Bücher und Postkarten. Das blasse Erbe der klassischen Alchemie. Der Versuch, aus Papier Gold zu machen … Als er kurz darauf an der gegenüberliegenden Wand die erste Kamera bemerkte, drehte er sich ein wenig zur Seite und bewegte sich, dicht gefolgt von dem Schatten, der nicht seiner war, in Richtung Treppe.
Das Gebäude war angenehm leer. Außerhalb der Saison schien sich niemand in der Gegend für die Alchemie zu interessieren. Der Fremde passierte zunächst einige Plakate, dann den Treppenaufgang zu den oberen Stockwerken. Auf dem nächsten Treppenabsatz erkannte er am offenen Fenster einen kräftigen Glatzkopf, der gelangweilt den Rauch seiner Zigarette aus dem offenen Fenster blies. In seinem Gürtel klemmte ein Funkgerät, und auf seinem schwarzen T-Shirt stand in alter Fraktur das Wort Security zu lesen. Das musste Masha sein. Oder Pasha. Der Besucher beachtete den Kerl nicht weiter und betrat stattdessen die rostige Wendeltreppe, die in den Keller hinabführte.
Das wackelige Eisengestell ächzte und knarrte bei jedem Schritt und erweckte den Eindruck, dass es womöglich tatsächlich von einem Alchemisten des 17. Jahrhunderts zusammengeschraubt worden war. Wenige Stufen später eröffnete sich ihm ein erster Blick in den Keller. Das Gewölbe war in einem alt wirkenden Zustand belassen worden, und zwischen grob gefugten Steinwänden hatte man eine vermeintlich authentische Alchemistenwerkstatt eingerichtet: einige Tische und ein paar alte Regale, auf denen eigentümliche Exponate zu erkennen waren. In kleinen, gläsernen Vitrinen waren Kräuter, Metalle, Flüssigkeiten sowie nicht näher definierbare Präparate ausgestellt. Außerdem mit feinem Strich beschriftete Porzellanbehälter, auf denen die lateinischen Bezeichnungen für Schwefel, Blei, Salz, Quecksilber und Kupfer standen. An den Wänden hingen alte Plakate, auf denen es beinahe durchweg um die Verwandlung unedler Metalle in Gold ging.
Der Fremde musste lächeln. Die große Transmutation … Sie ließ die Menschen staunen und machte die Alchemisten in ihrer Vorstellung zu schnöden Goldmachern. Und dabei war die Suche nach Gold seinerzeit, als die Alchemie die Krone aller Wissenschaften war, doch nur ein Nebeneffekt gewesen. Das Gold war der Nutzen, den die weltlichen Herrscher in der Alchemie erkannt hatten. Den größten Vertretern der Zunft aber war es doch stets um etwas ganz anderes gegangen: das Leben selbst . Das ewige. Das künstliche. Oder zumindest eine Kopie des Lebens …
Und wie jämmerlich war der Glanz des Goldes, wenn man einmal hinter den Schleier und in die vergessenen Schriften der alchemistischen Meister geblickt hatte.
Verächtlich wandte der Mann den Blick ab.
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