Der letzte Schattenschnitzer
In der Mitte des Raumes bemerkte er eine zweite Kamera, an der Stirnseite eine dritte. Unterhalb der Treppe hockte der zweite Security-Mann, ein exaktes Ebenbild des ersten, neben sich sein Funkgerät. Hochkonzentriert tippte er eine Nachricht in sein Mobiltelefon. Masha und Pasha sahen sich so beängstigend ähnlich, dass er beim Anblick der beiden haarlosen Kolosse sofort an Homunculi denken musste.
Kaum, dass er den Raum komplett sondiert hatte, entdeckte er, wofür er gekommen war. Der Tisch stand neben einer Esse und einem kleinen Lehmofen unweit der dritten Kamera. Auf ihm funkelten in hölzernen Vorrichtungen einige durch dünne, gläserne Rohre verbundene Glaskolben, Flaschen und Behälter. Überdies waren in verschiedenen kleinen Schubladen und offenen Geheimfächern unterschiedliche Metalle und Phiolen mit farbigen Flüssigkeiten zu erkennen. In der Mitte des Tisches stand eine schimmernde weiße Porzellanschale.
Langsam und bemüht, sein Gesicht vor den Kameras verborgen zu halten, schritt er durch den Raum in Richtung des Tisches. Direkt davor stand ein Aufsteller mit dem dazugehörigen Informationstext. Er überflog ihn.
Während der Schatten an seinem Fuß zu zerren schien, lächelte der Mann ein feines Lächeln, wusste er doch mit Sicherheit, dass es sich hier nicht um den Tisch Johann Friedrich Böttgers oder irgendeines anderen Goldmachers handelte. Er war einzig dafür geschaffen worden, das unglaubliche Vermächtnis des großen George Ripley zu bewahren. Dieses Vermächtnis war es, nach dem sein Herr trachtete.
Ein kurzer Blick über die Schulter bestätigte dem Fremden, dass Pasha – beziehungsweise Masha – noch immer mit seinem Telefon beschäftigt war. Doch auch wenn er abgelenkt war, würde es kaum möglich sein, Ripleys Vermächtnis unbemerkt aus dem Keller zu schaffen.
Bevor der Mann mit dem Bogarthut näher an den Tisch trat, bückte er sich, um vorsichtig das Messer aus seinem Stiefelschaft zu ziehen.
Mit einem aufdringlichen Jingle signalisierte Mashas Telefon unter der Treppe den Eingang einer Nachricht.
Der Besucher hielt kurz inne und atmete durch. Unterdessen lösten sich aus dem Dunkel seines Schattens zwei finstere Fetzen, die lautlos über den Boden und dann an den Wänden emporflossen, um sich kurz darauf über die Linsen der Kameras zu legen. Dann trat der Mann zu. Es war ein knapper, gezielter Tritt. Das vordere rechte Bein des Tisches gab nach und splitterte mit einem hässlichen Geräusch nach hinten weg. Die gläsernen Apparaturen gerieten ins Wanken, einige rutschten vom Tisch. Mit lautem Klirren knallten sie auf den groben Steinboden. Splitter spritzten umher.
Er ergriff das Tischbein, musterte es einen Moment lang und schleuderte es dann verächtlich zwischen die Scherben.
Der Hüne unter der Treppe blickte irritiert auf. Er sah den Fremden vor dem Tisch und schien im ersten Moment nicht zu begreifen, was dort vor sich ging. Dann aber ergriff der Fremde die Tischkante, hielt sie fest und holte ein weiteres Mal mit seinem Fuß aus, um auch noch das linke Tischbein abzutreten. Dieses Mal brauchte er zwei Tritte. Gleich nach dem ersten sprang Masha auf und hastete aus dem hinteren Teil des Kellers herbei. Er brüllte etwas in sein Funkgerät, zog seinen mattschwarzen Schlagstock und schwang ihn wütend über seinem Kopf.
Bevor er den Fremden jedoch erreichte, brach der mit einem zweiten kräftigen Tritt das Bein aus seiner Verankerung. Er schleuderte die Tischkante nach oben, so dass der Tisch nun mit dem Rest der Apparaturen scheppernd nach hinten fiel. In genau diesem Moment hatte der Wachmann den Vandalen erreicht und wollte gerade den Schlagstock auf dessen Kopf niedersausen lassen, als er plötzlich in den Schatten des Fremden trat.
Für den Bruchteil einer Sekunde schien die Zeit stillzustehen. Auf eine beinahe unwirkliche Art fiel der Schatten des bebrillten Fremden in diesem Augenblick – entgegen allen Gesetzen der Logik – auf den gut einen Kopf größeren Wachmann. Weder um die Lichtquellen innerhalb des Raumes noch die Gesetze der Physik schien er sich dabei zu scheren und verdunkelte beinahe den gesamten Oberkörper des Angreifers, der augenblicklich mit einem Aufschrei zurückfuhr und seinen Schlagstock fallen ließ. Von einem Moment auf den anderen wucherten dunkle Brandblasen auf seinem Oberkörper, als wäre er in glühende Kohlen gestürzt. Sie wuchsen, platzten auf, und seine Haut begann sich abzuschälen, während Brandlöcher das T-Shirt
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