Der letzte Schattenschnitzer
mit dem Security-Schriftzug zerfraßen. Der Geruch verbrannten Fleisches erfüllte den Keller, als der Koloss von Wachmann einige Schritte nach hinten taumelte, rücklings zu Boden fiel und sich dort unter Schmerzen wand.
Der Fremde hatte sich unterdessen nicht einen Moment lang in seinem Tun beirren lassen.
Er wusste, dass er nichts zu fürchten hatte. Denn er vertraute auf die Macht seines Herrn, der die dunklen Künste des Schattensprechens bis zur Vollkommenheit beherrschte. Er wusste, dass dieser ebenso Wissen wie Schmerz bringen konnte, auch wenn die Gilde ihren Angehörigen das Beibringen von Verletzungen mittels ihres Schattens verboten hatte und derlei Magie seit mehr als zweihundert Jahren nicht mehr gelehrt wurde. In dem Moment, als der Fremde den Mann in seinem Rücken hatte schreien hören und ihm der Geruch verbrannten Fleisches in die Nase gestiegen war, da hatte er gewusst, dass sein Herr die Elemente im Schatten entfesseln konnte. Er wusste seinen Schatten mit der Macht des Feuers zu beseelen! Er musste ein wahrhaft alter Meister seiner Kunst sein. Einer, der die verbotenen Bücher gelesen und die größeren Schatten zu beherrschen gelernt hatte. Welch Ehre es war, solch einem Kundigen dienen zu dürfen und ihn zum Lehrer zu haben.
Als Masha zu Boden ging, hatte der Besucher schließlich gefunden, wonach er gesucht hatte. Er erkannte die Höhlung im Inneren des Tischbeines, in der ein zerschlissener Fetzen stak. Vorsichtig zog er ihn heraus, während der Schatten in seinem Rücken von seinem Opfer abließ und ihm, seinem Diener, über die Schulter kroch, um die Beute ebenfalls in Augenschein zu nehmen. Der Fetzen war ein schlichtes Stück Leinen, das mehrmals um einen länglichen Gegenstand von vielleicht fünfzehn Zentimetern Länge gewickelt worden war.
Mit zitternden Fingern schlug er den zerschlissenen Stoff auseinander und legte Schicht um Schicht frei, wofür er gekommen war: das geheime Erbe des vielleicht größten Alchemisten aller Zeiten, das größte Geheimnis, das je in Europas Alchemistenküchen geschaffen worden war, das Eidolon . Er hörte weder die Stimme aus dem am Boden liegenden Funkgerät noch die Schreie des angesengten Hünen in seinem Rücken. Er hörte auch nicht den zweiten Wachmann, der schlagstockschwingend in ebendiesem Moment die ächzende Wendeltreppe hinabgestürzt kam. Noch bevor dieser aber überhaupt im Keller anlangte, schlug der Fremde das letzte Stück Stoff zur Seite und legte eine kleine, gläserne, mit Siegelwachs versiegelte Phiole frei, aus deren Innerem es eigentümlich dunkel schimmerte. In dem Röhrchen funkelte eine künstliche Finsternis, die in steter Bewegung schien, sich seit mehr als fünfhundert Jahren regte, sich wand, um sich selbst wirbelte und nach einem Ausweg aus ihrem gläsernen Gefängnis suchte. Künstliches Dunkel, das Ripley mit fremdartigen Instrumenten aus der Nacht geschnitten hatte, um es mit einem eigenen Willen und Leben zu erfüllen. Ein Schatten aus der Retorte, nicht Herr noch Ursprung habend. Weder einen Platz noch eine Existenzberechtigung in dieser Welt.
Was immer sein Herr auch vorhatte, dieses finstere bisschen Unmöglichkeit in seinem gläsernen Behälter war der Schlüssel zu seinem Plan.
In diesem Moment hatte Pasha den Fuß der Treppe erreicht. Er sah seinen am Boden liegenden Bruder, den zerstörten Alchemistentisch und zuletzt den Mann, ein Messer in der einen und ein mit Stoff umwickeltes Päckchen in der anderen Hand haltend. Irgendwo im Haus betätigte jemand den Alarm. Eine Sirene heulte auf, und Pasha stürmte mit erhobenem Schlagstock auf den Unbekannten zu.
Wieder löste sich der Schatten von dessen Füßen und stürmte dem Hünen entgegen. Doch augenscheinlich hatte der Schatten nicht mehr die Kraft, auch den zweiten Sicherheitsmann zu verbrennen. Stattdessen schoss er über den Boden auf ihn zu, sammelte sich zu dessen Füßen, kroch in Form eines wabernden dunklen Fleckes an ihm empor und legte sich wie eine dunkle Wolke über sein Gesicht, um ihn zu blenden. Pasha wurde schwarz vor Augen, er stoppte in seinem Ansturm, ließ den Schlagstock fallen und versuchte verzweifelt, sich den Schatten vom Gesicht zu reißen. Er bekam jedoch nur körperloses Dunkel zu fassen und taumelte unter dem grellen Lärm des Alarms durch das Zwielicht des Kellers. Dabei riss er Bilder von den Wänden, Vitrinen zu Boden und Gläser aus den Regalen. Splitter regneten auf seinen am Boden liegenden Bruder herab, der sich noch
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