Der letzte Schattenschnitzer
immer vor Schmerzen krümmte, und innerhalb kürzester Zeit verwandelte der nunmehr wild um sich schlagende Pasha den Alchemistenkeller in einen buchstäblichen Scherbenhaufen.
Der Fremde riss den Blick von der Phiole und schaute auf den blindwütig um sich schlagenden Sicherheitsmann. Um hinüber zur Treppe zu gelangen, musste er noch immer an ihm vorbei. Wenn der Hüne ihn aber zu fassen bekam, wäre es – Schatten hin oder her – vorbei mit seiner Flucht. Er kniff seine Augen zusammen, richtete sich auf und griff das Messer fester. Dann sprang er auf den Geblendeten zu, stieß ihm in schneller Folge drei Mal hintereinander das Messer in den Bauch und hastete weiter. Als Pasha stöhnend und blutend neben seinem Bruder zusammenbrach, ließ auch der Schatten von seinem Gesicht ab, zog sich von den Kameras zurück und heftete sich wieder ganz an die Füße seines Dieners, der mit dem blutigen Messer in der einen und dem Bündel in der anderen Hand die wankende Wendeltreppe emporhastete.
Am oberen Absatz angekommen blickte der Mann sich hektisch um. Auf seiner Stirn stand kalter Schweiß, Hände und Jacke waren blutbesudelt. Der Alarm hallte auch durch das Erdgeschoss. Das Funkgerät hinter dem Tresen rauschte leise. Der Fernseher lief noch immer. Die alte Frau aber war nirgends zu sehen.
Der Fremde holte kurz Luft, wandte sich dann Richtung Ausgang und eilte weiter.
Er hatte die Tür beinahe erreicht, als plötzlich die Alte von hinter dem Tresen auftauchte. Es ging alles zu schnell, als dass sein Schatten noch hätte einschreiten können. Die Alte hielt eine Schrotflinte in Händen. Der Finger am Abzug krümmte sich, es gab einen gewaltigen Knall, und der Rückschlag schleuderte die Frau zu Boden. Der Fremde schrie auf, als die Schrotladung seine linke Hand zerfetzte. Blut spritzte, Knochen splitterten. Das Bündel, wie durch ein Wunder unversehrt, entglitt ihm und fiel zu Boden. Die Phiole rutschte aus dem Tuch und zerbrach einen Wimpernschlag später klirrend auf den Fliesen, und der gefangene Schatten verflüchtigte sich.
Ungläubig blickte der Fremde erst auf seine zerfetzte Hand und das herauspulsende Blut, dann auf das Eidolon, das sich am Boden wieder zusammenzog und langsam zwischen den Fliesen zu versickern schien. Der Aufschrei des Mannes, als er auf die Knie fiel und den künstlichen Schatten mit seiner verbliebenen heilen Hand festzuhalten versuchte, war eine Mischung aus Schmerz und Verzweiflung. Er hatte versagt, hatte seinen Herrn enttäuscht. Der Schatten war entkommen, Ripleys Vermächtnis verloren. Er würde es verstehen, wenn sein Herr sich nun von ihm abwandte und ihn hier verbluten ließ.
Stattdessen aber kroch der fremde Schatten an ihm empor und legte sich über die blutenden Überreste seiner Hand. Sofort hörte es auf zu bluten. Selbst die Schmerzen schwanden. Wie es schien, hatte sein Herr beschlossen, ihn noch immer zu brauchen. Nun womöglich mehr noch als zuvor. Denn für seinen geheimen Plan brauchte er Ripleys Vermächtnis, den künstlichen Schatten …
Blutverschmiert und mit dem Dröhnen der Alarmsirene in seinen Ohren, floh der Fremde aus Kutna Horas alchemistischem Museum.
Er hatte eine Hand verloren, dafür aber die Gewissheit gewonnen, dass sein Herr bereit war, ihm eine zweite Chance zu geben …
John Dee
ALCHIMIA UMBRARUM (1604)
Kapitel XXII
(Seite 242 ff.)
VOM KÜNSTLICHEN SCHATTEN
E inen künstlichen Schatten zu schaffen, ein lebendes Doppel vom dunklen Abbild des Lebens, ist die höchste aller denkbaren Künste. Und während die großen Alchemisten ihrer Zeit noch danach strebten, ihren Homunculi Leben einzuhauchen, kam einer von ihnen doch dem Geheimnis der Schatten auf die Spur. Und während der große französische Meister Nicolas Flamel der Einzige war, dem es vergönnt war, einen künstlichen Menschen zu erschaffen, gelang es dem Engländer Ripley, einen künstlichen Schatten, das Eidolon, zu schaffen. Und auch wenn er es tat, um Verderben über die Welt zu bringen, von Rache und Zorn getrieben, so schmiedete er kraft seiner Schöpfung doch die Krone der Schattenmagie. Allein die Ahnung der Möglichkeit ist berauschend. Ein Schatten, aus dem Willen geboren, dem Willen zu Diensten, nicht geschaffen und geprägt von Gott, der die Schatten einst an die Füße der Menschen kettete.
Wir Menschen zeugen Leben kraft unseres Geschlechtes. Das Leben aber, das unseren Schatten innewohnt, zu erschaffen und von uns zu lösen, scheint die Unmöglichkeit, die
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