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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian von Aster
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leise im Schatten der Schöpfung wispert.
    Was genau Ripley tat, woraus er das Eidolon unter welchen Bedingungen destillierte, wird sein Geheimnis bleiben. Dafür trugen solche Sorge, die mächtiger sind als ich. Der Rat zerstörte Ripleys Wissen und seine Aufzeichnungen über die Welt der Schatten; sie nahmen ihm seinen Geist, seinen Schatten und bannten diesen bis zum Ende der Zeit in der Finsternis der Trümmer seiner eigenen Werkstatt.
    Was immer ich niederschreibe über das Eidolon und das künstliche Erschaffen von Schatten, die keines Herrn mehr bedürfen, um in der Welt zu existieren, tue ich unter den wachsamen Augen des Rates, der niemandem gestatten wird, jemals das Geheimnis zu lüften, das Ripley zwischen der Welt der Schatten und jener der Menschen erschuf.
    Und so ist mir in dieser Schrift nicht mehr vergönnt, als davon zu berichten, dass es möglich ist, selbst das Unschaffbare zu schaffen: einen Schatten ohne Herrn, der womöglich am Ende, nicht den Gesetzen der einen noch denen der anderen unterworfen, über Schatten wie Herren triumphieren wird.
    Den Worten des großen Gelehrten der Sterne, Michel de Notredame, Nostradamus geheißen, zufolge wird es ein falscher Schatten sein, der sich am Ende der Zeiten, wenn die Apokalypse naht, über die Welt legen wird …

4.
    Pulvus et umbra sumus.
    (Staub und Schatten sind wir.)
    Horaz
    (65 v. Chr. - 8 v. Chr.)
     
    B ald schon beschloss seine Mutter, Jonas Mandelbrodt zu seinem eigenen Besten tagsüber an einen Ort zu bringen, wo Schattenstarrer sich mit normalen Kindern trafen, damit sie sich aneinander gewöhnten. An jenem Ort sollte nun auch Jonas, kurz bevor er fünf wurde, mit anderen Kindern umzugehen lernen.
    Doch auch hier betrachtete er schweigend wieder nur mich und lernte statt sinnentleerter Spiele und allerlei Firlefanz neben weiteren Handgriffen des Schattenschnitzens auch die Geschichten, die es über jene wohl größte der vergessenen magischen Künste zu wissen gab.
    Es bedurfte keines halben Jahres, und mein Herr konnte bereits die Schatten seiner Stofftiere untereinander austauschen und sie in die Welt hinausschicken.
    Es waren kaum mehr als die Spiele eines Kindes, doch sie mussten im Geheimen stattfinden, damit die Welt sich nicht vor Jonas Mandelbrodt fürchtete. Niemand durfte Zeuge sein, wenn einem von ihnen mal der Schatten fehlte, weil Jonas ihn eingegraben, an einem Baum im Garten festgebunden oder zwischen dem Querkraut ausgelegt hatte.
    Über kurz oder lang jedoch vereinte mein Herr, wenn auch auf seine eigene Art, die Schatten wieder mit seinem Spielzeug. Und weil kaum einer noch wirklich hinschaut, so fiel es dieser Tage wieder niemandem auf, wenn am Fuße eines Roboters der Schatten eines Sauriers lag und eine Schildkröte den eines Raupenbaggers warf. Niemand sah es und niemand begriff, weshalb Jonas Mandelbrodt manchmal kicherte, wenn er versonnen zu Boden starrte.
    Ein Schatten unter seinen Spielzeugen erfuhr allerdings ein anderes Schicksal als zuvor beschrieben. Mein Herr besaß einen Stoffbären, Herr Brummbold genannt, mit dem schon seine Mutter gespielt hatte. Dementsprechend sah das Tier allerdings auch aus. Sein Fell war zerzaust, der Körper schon mehr als einmal geflickt worden, und davon abgesehen fehlte ihm ein Auge. Das Tier bot einen geradezu jämmerlichen Anblick. Sein Schatten aber, dem man diese Schwächen nicht ansah, war vollkommen intakt. Und so war er es, den der kleine Jonas liebgewann und den er, kaum dass er so weit war, vom Körper des zerschlissenen Stofftiers trennte, um ihn mit Leben zu füllen. Und während die stofflichen Überreste des Teddys selbst in die Abgründe einer selten geöffneten Kiste wanderten, vergnügte Jonas Mandelbrodt sich mit seinem Schatten. Wenn man die beiden umhertollen sah, dann konnte einem – wenn man denn eines besaß – fürwahr das Herz aufgehen. Es war nicht verwunderlich, dass das Abbild jenes Tieres meinem Herrn alsbald ein weiterer Vertrauter wurde. Jonas führte ihn stets mit sich, verbarg ihn wenn nötig in mir, seinem eigenen Schatten, und vertraute ihm seine größten Geheimnisse an.
    Mit diesem Schatten fiel es ihm, der in Gegenwart anderer Menschen doch meist schwieg, plötzlich leicht zu sprechen. Und eines Tages raunte er dem Schatten seines Stoffbären verschwörerisch etwas zu, das mich bis in mein innerstes Dunkel erzittern ließ: »Weißt du, Herr Brummbold, sei mir nicht böse, aber ich werde deinen Schatten an den Raupenbagger heften und mit

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