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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian von Aster
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viele Kinder auf dem Arm gehalten, hatte sie gern gehabt und großgezogen und war ihnen mitunter das gewesen, was ihre Mutter ihnen hätte sein sollen. Mama Cervantes war einst der gute Geist des Waisenhauses von Yucca Verde gewesen, nun aber mit der Familie nach Mexiko Stadt gezogen. Sie nahm kein Geld für das, was sie tat. Sonst hätte Marias Vater sie wohl auch über kurz oder lang hinausgeworfen. Mama Cervantes hatte lange genug gelebt, um zu wissen, dass für Geld zu arbeiten nur den Wunsch weckte, weniger zu arbeiten und mehr zu verdienen. Sie hatte in ihrem Leben mehr Geld und Liebe besessen als die meisten. Man sagte ihr nach, eine Affäre mit Frida Kahlo und irgendeinem Präsidenten gehabt zu haben. Es hieß sogar, dass sie die Frau eines Adeligen gewesen war. Eine Prinzessin womöglich. Aber Mama Cervantes war egal, was die Leute redeten. Ihr war auch egal, was einst gewesen war. Ein Bett, drei Mahlzeiten und das Lächeln der kleinen Maria, das war ihr Lohn, und für sie war das mehr als genug.
    Sie hatte in ihrem Leben so viele Kinder gesehen. Aber die kleine Maria war etwas Besonderes. Vom ersten Moment an hatte sie das erkannt. Und für das alte Kindermädchen lag die Besonderheit des Kindes nicht im Fehlen seines Schattens. Es waren seine Augen. Sie waren alt und weise, nicht die Augen eines Kindes, vielleicht nicht einmal die eines Menschen. Kaum jemand kam Maria je so nahe, dass er ihr in die Augen hätte sehen können. Nicht einmal ihre Eltern. Mama Cervantes aber sah sie. Und in Kinderaugen lesen zu können war eine Kunst, die in Mexiko jedes Kindermädchen über 80 beherrschte.
    Stundenlang saß sie an Marias Bettchen, hielt das Kind im Arm und flüsterte ihm leise zu: »Ei, kleine Maria, ich weiß, du bist gekommen. Bist gekommen, die Welt zu verändern, die Grenzen zu verschieben. Du, mein Kind, trägst Großes in dir, und du wirst die Welt, die taub und leer geworden ist, Respekt lehren vor längst vergessenen Dingen …«
    Mama Cervantes sprach wie ein Orakel. Doch ihre Wunderlichkeit war die Hellsicht einer Weisen. Regelmäßig befragte sie die Zeichen, las im Weihrauch und kaute Peyote, um der Bestimmung auf die Spur zu kommen. Die kleine Maria aber lauschte ihren Worten und blickte die Alte, wenn sie sprach, aus schwarzen uralten Augen heraus an.
    Don Inigo sah es hingegen gar nicht gerne, dass sein Kind mit derlei Unsinn und verdrehten Gedanken aufwuchs. Vor allem fürchtete er, dass Maria irgendwann, wenn sie zu sprechen begann, unbedachte Dinge äußern könnte. Das konnte dazu führen, dass sie ihren Ruf als Heilige verlor, was wiederum die Pilgerströme hätte versiegen lassen.
    Ein Kindermädchen, das den Mund hielt – ein stummes wäre ihm am liebsten gewesen –, hätte ihn allerdings Geld gekostet. Und so ließ Don Inigo es damit bewenden, Mama Cervantes von Zeit zu Zeit zurechtzuweisen. Meistens, wenn er ein wenig angetrunken war und der Respekt vor dem Alter ein wenig verblasste.
    »Behalt dein abergläubisches Gewäsch für dich, Alte! Maria soll hübsch dasitzen und nett anzusehen sein.«
    Mama Cervantes blieb in solchen Momenten stets ruhig.
    »Senor, glauben Sie mir, Ihre Tochter ist, bei allem gebührenden Respekt, zu mehr bestimmt, als bloß die Börsen ihres trunksüchtigen Vaters zu füllen.«
    »Bist du irre geworden, du alte Vettel? Wofür bezahle ich dich eigentlich?«
    Meist fiel Don Innigo in solchen Momenten auf, dass er sie ja keineswegs bezahlte. Dann wurde er etwas ruhiger, murmelte Dinge wie: »Sorg dafür, dass ihr Kleidchen sauber ist und sie ein wenig lächelt, wenn die Leute ihr Scheine zustecken wollen.« Und ging. Dann begann Mama Cervantes das Kind wieder in ihren Armen zu wiegen und flüsterte Maria Geschichten zu von den großen Dingen, zu denen sie bestimmt war.
    Maria würde kein gutes Kind sein, das wusste Mama Cervantes, keines, das später seinen Eltern nur Freude bereiten würde.
    Aber Maria war etwas Besonderes.
    Ein Schatz. Ihr Schatz.
    Und die wenigen Jahre die ihr noch in dieser Welt blieben, würde sie ihn bewahren …

    In jenen Tagen waren Jonas Mandelbrodt und ich unzertrennlicher geworden, als Mensch und Schatten es für gewöhnlich waren. Längst hatten wir begonnen, unsere Gedanken von der Welt und sogar unser Wesen zu teilen. In dieser Zeit geschah es auch, dass seine Mutter Jonas mehr und mehr vor jenen flimmernden Kasten setzte, mit dem sich euresgleichen so elend zu vergnügen pflegt. Um vor der Tür zu rauchen, sich mit einem Mann

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