Der letzte Schattenschnitzer
mit dem Erlebten und Erfahrenen der Menschen. Jeder Gedanke, der je gedacht, jede Tat, die je getan ward, hat sich eingebrannt in das Dunkel der Schatten. Nichts anderes ist dieser Limbus als eine allumfassende Bibliothek, und jeder einzelne Schatten nicht weniger als ein Buch, in dem ihr Wissen zur Gänze enthalten ist.
Ein Wunder, das sich erst dem erschließt, der die Sprache der Schatten beherrscht. Aber tut er dies erst einmal, so hat er Zugriff auf das Wissen aller, die vor ihm waren. Ein jeder Schattenschnitzer oder Schattensprecher ist gesegnet mit dem Wissen der Generationen, und kein Geheimnis, das sich jemals einem Menschen erschloss, ist ihm fremd …
Zieht man die Worte der Schattenmagier zu Rate und lauscht dem, was sie ihren eigenen Schatten über jenen Orten entlockten, so ist dieser Limbus, der Ort wo die Schatten sich sammeln und mischen, dem Menschen unerreichbar, verborgen tief im Inneren der Erde. Eine Höhle, deren Wände ganz aus kristallinem Salz bestehen und deren unwirkliches Weiß, das sich in der Tiefe über Hunderte von Meilen erstreckt, von blitzenden Lichtern erleuchtet wird, die dem Elmsfeuer ähneln und dabei wie ein Geflecht aus Adern hinter jenen Wänden verlaufen.
Erreichen können die Schatten den Limbus einzig durch Schatten, die älter sind als alles, was sonst ist. Es sind die Schatten von Felsen und Bäumen vom Anbeginn der Zeit, die diese – selbst wenn sie längst schon vergangen sind – heute noch werfen. Unseren Schatten sind dies die Tore, welche sie hinab in den Limbus führen. Und diese Tore, die ältesten Schatten, verbergen sich in denen unserer gegenwärtigen Welt, verstecken sich in denen unserer Häuser, Kirchen und Standbilder, so dass es uns Menschen nicht gegeben ist, sie zu erblicken. Doch wofür auch, denn nichts, was nicht Schatten ist, wird je seinen Weg in den Limbus finden.
Der einzige Sterbliche, der je ein Tor in die Welt der Schatten und die Tiefen des Limbus öffnen wollte und mit den ältesten Schatten zu experimentieren wagte, war der gleiche George Ripley, dem ich mein Wissen über die Schatten verdanke und der vom Rat der Schatten selbst verbannt und vernichtet wurde, bevor er die Schatten gegen die Menschen aufbringen und das Ende aller Dinge entfesseln konnte. Und ebenso wie das Eidolon verbarg der Rat auch das Tor in die Schatten vor den Augen der Welt und sicherte es durch fünf mächtige Siegel, auf dass kein Mensch und nichts, das nicht Schatten war, je seinen Weg in den Limbus fände …
Denn der Limbus ist das Königreich der Schatten, und einzig ihnen geziemt es, in ihm zu sein.
5.
Ein gutes Pferd läuft schon angesichts des Schattens einer Peitsche.
Chinesisches Sprichwort
E s war ein heißer Sommer und Jonas Mandelbrodt gerade fünf Jahre alt, als irgendwo in Mexiko ein Mädchen geboren wurde.
Seine Eltern gaben ihm den Namen Maria. Und damit es sich von den Töchtern anderer guter Katholiken, wie sie die Elendsviertel Yucca Verdes bevölkerten, unterschied, setzten sie vor seinen Familiennamen sowohl eine Carmen als auch eine Dolores. Aber selbst das hob das Kind kaum von anderen ab. Denn selbst wenn man in den engen Gassen, in denen die Hitze stand und streunende Hunde in den schnell verrottenden Abfällen wühlten, ihre drei Namen rief, würden sich immer auch Dutzende Mädchen umdrehen. Eine unter vielen zu sein, das wäre ihr Schicksal gewesen, dort unten in den Slums, wäre ihr Leben nicht von einem überaus eigentümlichen Umstand begleitet worden.
Carmen Maria Dolores Hidalgo besaß keinen Schatten.
Ihr erstes Wort sprach sie auf Radio »Liberta«, ihre ersten Schritte machte sie in Lupe de la Vegas Talkshow »aqui?«, und alle fragten sich, ob jenes Kind ohne Schatten verflucht oder gesegnet war.
Kaum einer in den Slums, ja, kaum einer in ganz Yucca Verde hätte sich je an ihren Namen erinnert. So aber kannte zwei Monate nach ihrer Geburt das ganze Land das Mädchen ohne Schatten . Fotos von ihm gingen um die Welt. Auf Titelseiten und in den Nachrichten konnte man sie sehen, und bevor Maria überhaupt bewusst zu leben begann, hatte längst ein amerikanischer Filmproduzent die Rechte an ihrer Geschichte gekauft.
Mancherorts bezweifelte man natürlich die Echtheit der Bilder. Wie leicht ließ sich ein Schatten dieser Tage wegretuschieren, und mit dem richtigen Licht wäre wohl nicht einmal das nötig gewesen. Jeder Zweifler aber, der das Kind zu Gesicht bekam, wurde eines besseren belehrt.
Tatsächlich
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