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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian von Aster
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scheint es sich nicht zu handeln. Auch wenn wir das Kind selbst bis jetzt noch nicht filmen durften, stehen wir doch in Verhandlungen mit dem Vater und hoffen, Ihnen später an diesem Tag noch einige Livebilder des Mädchens ohne Schatten übermitteln zu können.«
    Die Fotografie wurde ausgeblendet, und der Reporter erschien wieder auf dem Bildschirm. Hinter dem Mann waren auf dem Parkplatz der Hacienda die Pilgerströme zu erkennen. Verzückte Gesichter von Menschen, die Rosenkränze und Marienbilder emporreckten.
    Sowohl ich als auch mein Herr ahnten zu jenem Zeitpunkt, dass die Geburt dieses Mädchens zu genau diesem Zeitpunkt kein Zufall sein konnte. Erst hatte ich begonnen, meinen Herrn zu lehren, und nun fand ein Mädchen ohne Schatten seinen Weg in die Welt. Die ältesten aller Regeln standen im Begriff, gebrochen zu werden. Fürwahr, es lag etwas in der Luft. Die Schatten begannen, über die Welt zu wuchern.
    Ich hatte gehofft, Jonas Mandelbrodt unbeobachtet vom Rat und den Magiern dieser Zeit alles beibringen zu können, was er wissen musste, um zur gegebenen Zeit dem Schicksal trotzen zu können.
    Was aber ist die Hoffnung der Schatten gemessen am Sein derer, die sie werfen?
    Die Gewissheit, dass diese Zeit uns nicht gegeben sein würde, ereilte mich, als wir uns eines Morgens inmitten anderer Kinder bemühten, so zu sein wie sie. Wir gaben vor, zu spielen, uns vergnügt auf eine Rutsche zu werfen, übermütig im Dreck zu wühlen und konzentriert bunte, hölzerne Klötze zu stapeln, als es plötzlich geschah: Unversehens hatte sich die Tür geöffnet. Im gleichen Moment spürte ich bereits etwas. Und kaum einen Wimpernschlag später ließen sämtliche Frauen und Kinder in jenem Raum mit einem Mal von dem ab, was sie gerade taten. Alle waren in Bewegungslosigkeit erstarrt. Ich sah ihre Schatten ihre Leiber festhalten, sah die Menschen um mich herum gelähmt in all ihrem Denken wie im Handeln. Und ich erkannte diesen Zauber, der aus dem alten Mesopotamien stammte … Jonas und ich waren die einzigen Wesen in jenem Raum, die noch Herr ihrer Sinne waren, als plötzlich ein Unbekannter durch die offene Türe trat und uns mit kaltem Blick musterte. Über seinen trüben grauen Augen lag der milchige Schleier des Todes, seine Haut war fahl, von dunklen Flecken überzogen, und schimmernde Fliegen umschwirrten das kahle Haupt. Ich erkannte sofort, dass er keinen Schatten besaß, und wusste, dass dort der Körper eines Toten stand, der lediglich das Gefäß war für einen Größeren, dessen Schatten in ihn gefahren war, um durch ihn zu uns sprechen.
    Und ebenjener Größere lenkte die Schritte seiner leblosen Hülle nun an all den anderen vorbei in unsere Richtung.
    In diesem Raum, in dem die Schatten gleichsam die Zeit und die Dinge darin festhielten, wirkte der wandelnde Tote beinahe unwirklich. Er passierte die erstarrten Körper, erreichte schließlich mich und meinen Herrn, und dann floss aus den Augenhöhlen und Nasenlöchern der verrottenden Gestalt ein Teil jenes Schatten, der ihn beherrschte, und drang mit einer Macht in mich, dass es mich schier zerriss.
    Und während seine kalten Augen starr auf die meines Schützlings gerichtet waren, vernahm ich die Sprache der meinen: »Höre, Schatten, ich bin hier, dich zu warnen. Du hast begonnen, den Weg zu einem großen Ziel zu beschreiten. Der Rat hat deinen Frevel längst bemerkt. Ich hingegen bin auf deiner Seite. Bald, bald schon wirst du verstehen …«
    Ich spürte, wie jener Schatten mich aufriss, mich wissen ließ, dass er mich, kraft uralter Zauber, beherrschen und sogar vernichten konnte, wie es ihm beliebte.
    Trotz allem, konfrontiert mit einem Untoten und fast vergessenen Zaubern, zeigte mein Herr keine Angst. Jonas Mandelbrodt stand und wankte nicht. Und während die Worte des Fremden uns durchdrangen, hätte ich vielleicht bereits ahnen können, dass mein Herr mehr als nur ein Knabe war, mehr noch, als ich bis dato angenommen hatte.
    Der Fremde offenbarte mir, dass mein Wagnis bedeutsamer war, als ich ahnte. Er hieß mich, meinen Herrn lehren. Über alle Regeln sollte ich mich erheben, um die Zukunft der Schatten zu formen! Und der Schlüssel zu dieser Zukunft, die Antwort auf alle meine Fragen wäre das Mädchen ohne Schatten.
    Schließlich verstummten Schatten und Sprache. Der Fremde schwand aus mir, der Blick des wandelnden Leichnams löste sich von meinem Herrn, und schweigend verließ er, von schwirrenden Fliegen gefolgt, den Raum, ohne noch

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