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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian von Aster
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zurückzuziehen oder am Ende der Siedlung Alkohol zu konsumieren, ließ sie ihren Sohn lärmende bewegte Bilder betrachten. Und auch wenn diese Bilder ihn nicht kümmerten, wusste Jonas doch, dass sich Kinder seines Alters ihnen gewöhnlich gern hingaben. Um also seiner Mutter eine Freude zu machen, zeigte er sich interessiert, sobald der Bildschirm zu flimmern begann.
    Und während er noch immer kaum sprach, nahm er doch begeistert alles auf, was um ihn herum geschah. Von Herzen wollte er ebenso die Welt der Menschen wie auch die der Schatten verstehen lernen.
    Sobald Ruth das Haus verließ, schaltete mein Herr durch die Programme, weg von den gezeichneten Bildern für Kinder, und suchte das, was ihn wirklich interessierte: Geschichten und Berichte über versunkene Kulturen, die mich sentimental werden ließen, und Sendungen über historische Gestalten, die mir persönlich bekannt gewesen waren. Und während Jonas die bewegten Bilder, jene Schatten der Vergangenheit, betrachtete, lehrte ich ihn zugleich, was ich über all das, was er dort sah, wusste …
    Bei einer solchen Gelegenheit geschah es, dass plötzlich etwas auf dem Bildschirm zu sehen war, das meinem Herrn den Atem und mir schier das Schwarz stocken ließ: ein Mann im Anzug, irgendwo in Mexiko, der von einem Wunder sprach, wie die Welt es noch nicht gesehen hätte. Er war so aufgeregt, dass er beim Sprechen immer wieder ins Stocken geriet und beinahe ein wenig verwirrt anmutete. Das aber, was er sagte, trieb in jenem Moment einen Riss durch die Wirklichkeit. Es veränderte die Welt, verschob von einem Moment auf den anderen die Grenzen des Möglichen und durchfuhr mich und meinen Herrn so tief, dass ich mich auch heute noch an fast jedes Wort des Reporters erinnere.
    »Es ist unglaublich, meine Damen und Herren. Mexiko ist in Aufruhr. Und der Grund dafür sind dieses Mal weder Drogenkriege, Grenzzwischenfälle noch Bestechungsskandale. Heute ist es ein kleines Mädchen, welches das Land in Aufruhr versetzt.«
    Das Bild wechselte. Statt des Mannes zeigte es nun ein Kind, das in einem weißen Kleidchen mitten in der Wüste stand und dabei wie eine kleine Heilige aussah, die sich irgendwie verlaufen hatte. Etwas an diesem Bild war seltsam, und ein gewöhnlicher Betrachter hätte wohl nur auf den zweiten Blick bemerkt, worin genau die Ursache dafür lag. Jonas hingegen erkannte es sofort: Das Mädchen hatte keinen Schatten! Das Bild blieb noch einige Zeit auf dem Bildschirm stehen, während im Hintergrund weiter die Stimme des Mannes zu hören war.
    »Es scheint tatsächlich ein Wunder: Die kleine Carmen Maria Dolores wurde ohne Schatten geboren. Das Phänomen wurde bereits von verschiedenen Sachverständigen wie auch Vertretern der katholischen Kirche in Augenschein genommen. Eine Erklärung jedoch …«
    Ein Wunder. Wie leicht euch dieses Wort manchmal über die Lippen kommt. So viele Wunder gibt es in der Welt, dass es auf eines mehr oder weniger nicht ankommt. Die meisten von ihnen bemerkt ihr nicht einmal. Dies hier aber, dieses Mädchen, war weit mehr als ein gewöhnliches Wunder. Es war der lebende Beweis dafür, dass die Welt der Schatten in Bewegung geriet und mit euch in Kontakt zu treten versuchte! Als ich das verstand, zog sich mein Dunkel zusammen. Denn in diesem Augenblick erkannte ich, dass ich nicht der Einzige war, der die Gesetze der Schatten zu brechen beschlossen hatte.
    Meinem Herrn aber bedeutete der Anblick jenes Kindes weit mehr. Die Existenz Carmen Maria Dolores Hidalgos ließ ihn ahnen, dass er nicht allein in der Welt war. Dass es irgendwo dort draußen, im Herzen Mexikos, jemand anderen gab, den die Schatten ebenso wie ihn anders gemacht hatten. Der die Schatten flüstern hörte und sich fremd fühlte zwischen den Menschen. Für Jonas Mandelbrodt war das Mädchen ohne Schatten mehr als bloß ein Wunder. Er rückte näher an den Fernseher heran, legte die Hand auf das Gerät und berührte das Bild des Kindes an der Stelle, wo sein Schatten hätte sein sollen. Und während er das tat, so versonnen, so selbstversunken, da spürte ich eine sonderbare Form von Sehnsucht in ihm. Irgendwo, in unerreichbarer Ferne, hatte er, der sich außer um seinen kleinen feisten Freund kaum um Menschen scherte, eine einsame Verbündete gefunden, die – wie er – ein Leben zwischen Menschen und Schatten führte.
    Und während wir schauderten, tönte es weiter aus den Lautsprechern.
    »Eine Erklärung gibt es bis jetzt noch nicht. Um einen Trick jedoch

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