Der letzte Schattenschnitzer
einmal zurückzublicken.
Kaum dass der Tote entschwunden war, da wich auch der Bann von den Menschen um uns. Ihre eigenen Schatten ließen sie frei und fraßen die Erinnerung an ihre letzten Minuten. Von einem Moment auf den anderen begannen sie alle, sich zu regen, als wäre nichts geschehen. Sie schrien und zankten und tratschten, und Norman hatte sich in die Hose gemacht.
In ihrer Welt hatte sich nichts geändert.
John Dee
ALCHIMIA UMBRARUM (1604)
Kapitel XVII
(Seite 192 f.)
VOM FEHLEN DES SCHATTENS
I st nun aber einer in der Welt, der ohne Schatten wandelt, kann dies zweierlei bedeuten: Zum einen mag es sein, dass er seine Seele für einen guten Preis dem Teufel verkaufte und dieser den Schatten als ihr Sinnbild an sich nahm. So heißt es jedenfalls im Volksmund, der einem, der keinen Schatten hat, auch die Seele abzusprechen pflegt. Wahrscheinlicher aber ist, dass einer, der sich seines Schattens zu entledigen versteht, zum Kreise der wenigen zu zählen ist, die eingeweiht sind in die Mysterien der Magie. Magier, die nicht nur die Sprache der Schatten beherrschen, sondern auch ihren Willen unter ihren eigenen zwingen können.
Jenen Schattenschnitzern wie auch Schattensprechern ist es möglich, ihr dunkles Abbild nicht nur zu verformen, sondern auch in die Welt zu schicken. Sie können es einsetzen, um an Orte zu gelangen, die ihrem körperlichen Selbst verwehrt sind. Je nach dem Grad ihrer Macht ist es ihnen gegeben, ihren Schatten unter ihrem Befehl zu einem Spion oder einem Mörder zu machen, der keine Grenze kennt, die Verstand oder Vernunft jemals zogen. Denn wo immer Licht ist, wird auch Schatten sein. Und gibt es kein Licht, so herrscht das Dunkel, in dem die Schatten sich wie in ihresgleichen zu verbergen verstehen.
Da aber einer, der die geheimen Wissenschaften beherrscht, dem Volke nicht mehr gilt als einer, der seine Seele dem Teufel verkauft hat, ist letztendlich auch diese Kategorie der vorangegangenen zuzurechnen. Bist also auch du eingedenk deines Wissens und der Magie in der Lage, deinen Schatten hinter dir zu lassen, gib stets acht, dass niemand dieses Vorgehens ansichtig wird, und stiehl dir notfalls einen Schatten, den du als den deinen ausgeben kannst, derweil der deine unter deinem Willen in der Welt unterwegs ist.
Es gibt noch eine letzte Kategorie. Allein von meinem Lehrer angedacht, fand sie sich noch niemals in der Wirklichkeit wieder. Dass nämlich ein Mensch ohne Schatten nicht wirklich ohne Schatten ist. In diesem Falle wäre es dem Schatten gelungen, zum Zeitpunkt der Geburt seines Herrn in ihn einzudringen und seine Seele zu verdrängen. Und während diese in den Himmel aufstieg, übernahm an ihrer statt der Schatten das Leben jenes Menschen, so dass ein Schatten seinen Herrn und nicht länger der Herr seinen Schatten beherrschte. Derlei aber zu erforschen war dem großen Alchemisten, da er sich gegen Mensch und Schatten versündigte, nicht mehr gegeben. Und mit ihm bannte der Rat seine unheiligen Gedanken, und – so Gott will – wird kein Schatten jemals seinem Herrn fehlen, weil er in ihn fuhr, seine unsterbliche Seele verdrängte und sich aufschwang, den zu beherrschen, von dem beherrscht zu werden er selbst geschaffen wurde.
6.
Bist du denn nicht in meinem Schatten, unter meinem Schutz?
Bin ich nicht der Brunnen deiner Freude?
Bist du nicht in den Falten meines Mantels, in der Beuge meiner Arme?
Brauchst du noch mehr als das?
Maria von Guadelupe, Die Schlangenzertreterin
D er Alte fand seinen Weg, glitt durch die Welt und bewegte sich von Schatten zu Schatten. Er war schnell, folgte dem Licht und der natürlichen Richtung seiner Art. Durch Schatten von Bergen, Bäumen, Häusern und Bauwerken, ohne Aufwand, ohne einen von ihnen zu beugen oder seine Kräfte auszunutzen. Im Gegensatz zu den meisten anderen seiner Artgenossen schätzte er die Gesetze, welche die Natur den Schatten auferlegt hatte. Was ihre Aufgabe anging, die Aufgabe des Rates, das Gleichgewicht zwischen Schatten und Menschen zu wahren, so war er im Lauf der Jahrhunderte zu dem Schluss gekommen, dass sie ohne Belang war. Seine Erfahrungen zeigten, dass die Natur ihren eigenen Weg besaß, das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten.
Außer in Situationen wie diesen. Denn George Ripley, der letzte Schattenschnitzer, hatte der Natur trotzen und Grenzen zwischen Alchemie und Magie verwischen wollen, um das Unmögliche zu schaffen. Mit seinem künstlichen Schatten, dem Eidolon, hatte er die
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