Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian von Aster
Vom Netzwerk:
warf das Mädchen zu keiner Zeit des Tages einen Schatten.
    Gläubige Großmütter mit verknitterten Gesichtern küssten weinend den Saum ihres Kleidchens, und gestandene Männer gingen schluchzend an ihrem Bettchen in die Knie. Bei ihrem Anblick gaben Säufer das Trinken auf, und Heiden wurden gläubig. Es gab sogar einige, die in ihr den wiedergeborenen Heiland zu erkennen glaubten. Und darum ließ die katholische Kirche es sich auch nicht nehmen, zur Untersuchung des vermeintlichen Wunders einen Sachverständigen zu entsenden, dessen Aufgabe es war, das Mädchen ohne Schatten zwischen weinenden Marienstatuen und spontanen Manifestationen des Antlitzes Jesu einzuordnen.
    Der Sachverständige ordnete sie jedoch nicht ein und empfahl dem Papst stattdessen, wie man es in der katholischen Kirche seit eh und je zu tun pflegt, keinen Standpunkt zu dem Thema zu beziehen. Das aber änderte nichts an der Verehrung, die dem Kind in seiner Heimat entgegengebracht wurde.
    Die Leute kamen scharenweise, um es zu sehen. Mit jeder Woche wurden es mehr, und die meisten von ihnen ließen kleine Gaben vor der schäbigen Tür ihrer Eltern zurück. Manchmal war es ein Stück Brot, ein Huhn, mitunter eine Münze, aber auch Scheine. Pesos über Pesos. Was immer die Leute entbehren konnten, was immer dieses Wunder ihnen wert war, legten sie ihm zu Füßen. Dem Mädchen ohne Schatten, von dem alle Sünde genommen war. Denn so, wie der Mensch sich nicht von der Erbsünde lösen konnte, so wenig konnte er sich von seinem Schatten lösen. Maria aber war frei, frei von dem einen wie dem anderen, sie war auserwählt!
    So glaubten die einen.
    Dass sie eine Abgesandte des Teufels war und ihre Ankunft vom nahenden Ende der Welt kündete, sagten die anderen.
    Die Gazetten titelten wild. Erst die der näheren Umgebung, bald die des gesamten Landes.
    »Das Wunder von Yucca Verde«, »Das Mädchen, das seinen Schatten abstreifte« und »Die Sündenlose« lauteten die ersten Schlagzeilen von México hoy und La Mañana . In fetten Lettern kündeten sie von dem Wunder, welches das ärmliche Viertel mit Hoffnung erfüllte.
    Mit »Satans Braut«, »Die schattenlose Schande« oder »Die Teufelin von Yucca Verde« hielten der Mensajero und A las ocho dagegen und machten klar, dass es neben den Wundergläubigen auch ebenso viele gab, die das Kind für ein Vorzeichen der nahenden Apokalypse hielten.
    Während die einen dieses und die anderen jenes sagten, eroberte das Mädchen ohne Schatten die Welt, und ihre Familie entstieg den Slums.
    Bald erwarb ihr Vater, Don Inigo Hidalgo, ein Anwesen unweit von Mexico City, eine kleine Hazienda, auf der es der kleinen Familie fortan an nichts fehlte.
    Der Alkohol, mit dem ihr Vater sich betrank, wurde teurer, und er schlug seine Frau bloß noch, wenn es niemand sah. Sonst aber änderte sich kaum etwas.
    Die Leute kamen noch immer, um Carmen Maria Dolores zu sehen. Jetzt allerdings bloß noch mittwochs und donnerstags zwischen 13 und 17 Uhr. Auch weiterhin brachten sie Geschenke. Eintritt mussten sie dennoch bezahlen. Einen Dollar pflegte ihr Vater inzwischen zu nehmen, denn Dollars waren ihm lieber als Pesos. Überall im Haus versteckte er die Scheine. Bündelweise. Den Banken, sagte er, könne man nicht trauen. Aber er traute ohnehin niemandem. Der Alkohol hatte ihn paranoid gemacht. Er trug immer einen Revolver bei sich und schoss damit mal auf Hunde, mal auf Pilger und behauptete dann, Gott selbst hätte es ihm befohlen.
    Ihre Mutter blieb die stille Frau, die sie immer gewesen war, überschminkte geflissentlich ihre blauen Flecken, liebte ihren Mann, wie sie es vor dem Altar versprochen hatte, und nahm Tabletten, um all das zu ertragen.
    Sie waren eine Familie, und das Vorführen der kleinen Maria war ihr Job. Ein lohnender Job.
    Während sich ihre Eltern um ihr Leben kümmerten, kümmerte sich ein Kindermädchen um Maria. Ihr Vater war meist zu betrunken, um sich mit seiner Tochter auseinanderzusetzen, und ihre Mutter vergaß bisweilen, dass sie überhaupt eine Tochter hatte. Oft lag Maria einfach nur herum, während ihr Vater Pilgergaben von der Schwelle ihres Zimmers sammelte und ihre Mutter wie ein Geist an ihrer Tür vorüberschwebte. Wäre nicht das Kindermädchen gewesen, hätte die Kleine keine echte menschliche Nähe erfahren und wäre vermutlich irgendwann in ihrem Bettchen vor Hunger gestorben.
    Ob das Mädchen nun einen Schatten hatte oder nicht, die alte Mama Cervantes liebte das Kind. Sie hatte schon

Weitere Kostenlose Bücher