Der letzte Schattenschnitzer
erlernt haben soll. Wie sollte er die Jahrhunderte überdauerte haben? Unbemerkt von uns?« Es war die scharfe Stimme, die zweifelte. Doch der Schatten der Frau ließ sich nicht beeindrucken.
»Vergesst nicht: Während alle anderen Schatten offene Bücher für uns sind, können wir Geheimnisse verbergen. Wir können verhindern, dass unsere Schatten sich mit anderen mischen. Wir sind die Einzigen, die nicht alles Wissen teilen müssen. Wenn jener Italiener es ebenfalls gelernt hat …«
»Womöglich ist er gar einer von uns …?«, wisperte der letzte der fünf den schlimmsten aller möglichen Gedanken in ihre Runde.
»Schluss damit!« Entschieden hallte der Gedanke des ältesten Großmeisters durch das Schwarz, und das Alter in seiner Stimme wurde von seiner Entschiedenheit noch übertroffen.
»Ich selbst werde den Kerker des Alchemisten in Augenschein nehmen …«
»Was ist mit dem Schatten des Jungen?«, wollte die Frau wissen.
Es war der Energische unter ihnen, den diese Frage aufbrausen ließ.
»Der Junge? Weder er noch sein Schatten sind wichtig! Nicht jetzt. Wir sollten uns vielmehr Gedanken darüber machen, was weiter geschehen soll. Wenn das Eidolon wirklich dort draußen ist, ist die Ordnung der Dinge in großer Gefahr.«
Der Neuhinzugekommene lachte dunkel auf.
»Die Ordnung der Dinge? Erinnert euch! Ripley, der unheilige Alchemist, wollte das Reich der Schatten unter seine Herrschaft bringen! Darum hat er das Eidolon seinerzeit geschaffen. Einen Schatten, der an keine Regeln gebunden ist, dem die Zwänge der Schatten fremd sind, der keine Grenze, keine Moral und keinen Herrn kennt. Wenn es ihm gelingt, sich mit den gewöhnlichen Schatten zu vermischen, dann ist es weniger die Ordnung der Dinge, die in Gefahr ist, als die Welt der Menschen in ihrer Gänze!«
Der Alte versuchte, den anderen zu beruhigen.
»Um die Schatten zu vergiften, müsste das Eidolon bis in den Limbus vordringen. Und das ist vollkommen undenkbar. Dafür haben wir die Siegel geschaffen. Nichts, das kein wahrer Schatten ist, wird in jenen Ort jemals eingehen.«
Seine Argumente aber schienen nicht zu fruchten.
»Aber wenn es ihm dennoch gelingt, was dann?«
»Dann fällt die Welt den Schatten des Limbus anheim.«
»Und der Mensch wird beginnen, dem Schatten zu dienen«, ergänzte die scharfe Stimme den Gedanken. Doch der Alte rief sie alle zur Besinnung.
»Es ist unsere Aufgabe, das zu verhindern. Eilt an die Schattenstätten. Überprüft die Siegel. Ich werde mich in Ripleys Kerker begeben.«
»Gnade uns Gott«, flüsterte leise der Letzte von ihnen.
»Lange schon nicht mehr. Nicht einmal sein Schatten ist der Welt geblieben …«
Die zynischen Worte des scharfzüngigen Schattens waren die letzten, die während dieser Zusammenkunft in das gemeinsame Dunkel flossen. Dann verstummten sie, entwirrten sich, und langsam glitt das Schwarz des einen aus dem der anderen. Der Rat der Schatten ging auseinander. Sie ließen voneinander ab, strebten zurück in die Welt, um sich von neuem an die Füße ihrer Herren zu heften, die voneinander nicht mehr kannten als ihre Schatten …
John Dee
ALCHIMIA UMBRARUM (1604)
Kapitel XIII
(Seite 132 ff.)
VOM LIMBUS
H inter der Welt ruht eine Welt, in der sich das wahre Wesen der Schatten findet. Dieser Ort trägt den Namen Limbus, was ›Rand der Welten‹ bedeutet. Dort, wo die Seelen wohnen, die im Himmel keinen Einlass finden. Und während im Menschen selbst seine unsterbliche Seele wohnt, sind die umherirrenden Schatten Spiegelbilder jener Seele. Doch während die Seele selbst ihren Himmel finden mag, gibt es für das Schattenbild kein Paradies. Der Limbus ist hingegen der Ort, wo es der Erlösung am nächsten kommt.
Hierher kehren die Schatten, wenn ihre Herren sterben, zurück, um sich mit ihresgleichen zu vermischen und zu teilen, was sie im Laufe eines Menschenlebens am Fuß ihres Herrn erfuhren. Was in einem ist, ist hernach auch in allen anderen. Zu gleichen Teilen ist alles, was jemals aufgenommen wurde, in jedem Schatten. Das Wissen der großen Philosophen, die Gedanken vergessener Poeten, die Strategien der alten Generäle. Wissen, Wahrheit, Geschichte. An diesem Ort mischt sich alles mit allem, und von hier aus finden die Schatten erneut ihren Weg in die Welt, um ihre Bestimmung zu erfüllen, ihren Platz einzunehmen am Fuße eines neuen Herrn, dessen gesamte Erfahrung sie am Ende seiner Zeit hierher und zu den ihren tragen. Im Limbus saugen die Schatten sich voll
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