Der letzte Schattenschnitzer
der Junge seinen Körper wieder in Besitz genommen, da drängte auch er in den Schatten des Wächters. Er erzählte von dem fürchterlichen Schattensturm, der das dritte Siegel gebrochen und die Erzsebet Stiny verschlungen hatte, davon, wie er sich ihm entgegengestellt hatte und von ihm zu Boden geschmettert worden war. Und zuletzt berichtete er sogar von dem Unbekannten, der in ihn gedrungen war, kaum dass er im Schatten der Chimären wehrlos am Boden gelegen hatte.
Das Dunkel des Wächters durchfloss den Schatten des Jungen. Er lauschte, verstand und füllte schließlich die Wunde, die der Splitter der Nyx in seine Schulter gerissen hatte, mit seinem eigenen Schwarz, um sie dadurch zu heilen.
Die Schilderungen des Jungen beunruhigten ihn nicht. Denn er wusste, weshalb der Sturm Jonas verschont hatte, und ahnte auch, dass es der Älteste war, der sich mit dem Schatten des Jungen vermischt hatte. Der Wächter hoffte, dass das damit verbundene Erkennen den Alten verstehen ließ, welchen tieferen Plan der Wächter mit dem Ende der Welt verfolgte …
Während Jonas Mandelbrodts Dunkel von dem des Engels durchströmt wurde, war Maria zum Fenster hinübergegangen und blickte nun teilnahmslos in das Tal hinab, an dessen Rand sich bereits die Truppen des Rates sammelten.
Malachias betrat die Hütte. Er war außer Atem. Schweiß stand auf seiner Stirn.
»Es hat begonnen. Sie greifen den Ort an.«
Doch selbst jetzt, im Angesicht des aufkommenden Unheils, erfüllten die erhabenen Worte des Wächters das Herz Jonas Mandelbrodts mit Ruhe.
»Die Dinge geschehen, wie sie zu geschehen bestimmt sind. Er hat all dies geschaffen, damit es seiner Bestimmung gerecht werde. Die Menschen dort draußen sehen nicht mehr als kleine, bunt bemalte Steine. Das gesamte Bild aber erschließt sich einem erst, wenn man über das eigene Dasein hinauswächst oder die Flügel eines Engels besitzt. Und bald, Jonas, wird es sich auch dir erschließen.«
Wie gerne wäre Jonas in diesem Moment von Mademoiselle Stiny in den Arm genommen worden und hätte aus ihrem Mund mit menschlicher Stimme gehört, dass alles gut würde. In der kühlen Umarmung des Wächters hingegen lag kein Trost. Mühsam kämpfte der Junge im Schatten des Engels gegen seine Tränen an.
Maria spürt Jonas’ Verzweiflung. Langsam kam sie vom Fenster her auf ihn zu. Und obwohl das tiefe Schwarz ihrer Augen die gleiche Kälte besaß wie der Schatten des Engels, war es für Jonas beinahe ein Gefühl der Erlösung, als das kleine Mädchen wortlos seine kurzen Arme um ihn schlang und ihre Wange an seine Hüfte legte. Sie hielt ihn fest. Gab ihm, was weder Mutter noch Engel ihm je hatten geben können. Alle Bestimmung, Vorsehung und Bedeutung verblassten gegen diese eine Umarmung. Jonas genoss die Nähe, ohne sie zu hinterfragen. Er sank auf die Knie, schloss seine Arme eng um das schwarzhaarige Mädchen und konnte nun seine Tränen nicht mehr länger unterdrücken. Langsam begann Maria, seinen Kopf zu streicheln, fuhr vorsichtig mit ihren kleinen Händen über seine kurzen blonden Haare und flüsterte leise: »Todo estará bien …« Alles wird gut. Und während Jonas all die Tränen herausweinte, die sich über die Jahre in ihm angesammelt hatten, wiederholte sie diesen einen Satz wieder und wieder. Dass ihre Augen dabei so schwarz und kalt waren, dass selbst noch die Hoffnung darin hätte erfrieren können, bemerkte Jonas nicht.
Der Wächter war unterdessen in den alten Malachias gefahren, durch dessen Augen er schweigend die Kinder betrachtete. Er kannte die Wahrheit, wusste, dass es nicht Carmen Maria Dolores Hidalgo war, die Jonas in diesem Moment Trost spendete, sondern das Eidolon, das dafür Sorge trug, dass der Junge sich ihm nicht in den Weg stellte.
Kurz darauf hörte Jonas Lärm aus dem Tal dringen. Er löste sich aus Marias Umarmung und blickte aus dem Fenster. In der Ferne sah er die Strommasten fallen. Dann erkannte er die Militärfahrzeuge, die auf den Ort zuhielten, während die Verbündeten des Engels sich in ihren steinernen Häusern hinter biblischen Reliefs verschanzten.
»Was geschieht hier?«, fragte er und blickte zu Malachias. Die Antwort des Wächters war vollkommen ohne Gefühl:
»Der Rat hat den Sturm auf Ambrì eröffnet.«
Und der Junge verstand, weshalb diese Männer gekommen waren. Seinetwegen. Sie wollten ihn und Maria. Die Anomalien ausmerzen, die die Reinheit der Schatten verdarben und das Gleichgewicht gefährdeten.
Das Mädchen
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