Der letzte Schattenschnitzer
Kraft. Nur noch wenige Meter war er von ihnen entfernt, als Erzsebet Stiny plötzlich das Schattenbild des Jungen zur Seite stieß und der Schwärze des Sturms ihr eigenes Dunkel entgegenschleuderte. Im gleichen Moment fuhr die finstere Sturmfront aus geballter Wut auf sie herab, packte sie mitsamt ihrem Schatten und riss beide vom Boden in die Höhe. Erzsebet Stiny blieb nicht einmal Zeit, sich zu wehren. Der Schattensturm riss sie mit sich. Alle ihre Knochen schienen innerhalb eines Wimpernschlags zu brechen. Grotesk verrenkt wirbelten ihre Glieder umher, und dann verschluckte das aufgetürmte Schwarz sie schließlich ganz.
Entsetzt gewahrte der Alte, wie ihr Schatten in der Finsternis des Sturms verschwand.
Von Erzsebet Stiny blieb nichts zurück.
Einen kurzen Moment lang schien der schwarze Mahlstrom in der Luft stillzustehen und nun sowohl Jonas als auch den Schatten des Alten zu bemerken. Zunächst wirkte es, als wollte das rumorende Dunkel sich erst auf den einen und dann auf den anderen stürzen und auch sie verschlingen. Dann aber ergriff die schwarze Gewalt unverwandt eine andere Richtung und bahnte sich ihren Weg durch die Bäume zum kunstvoll geschnitzten Schatten der Nyx. Einen Wimpernschlag später riss sie den uralten Schatten an sich. Unter dem Einfluss ihrer Macht löste das Schattenbild sich vom Boden. Im nächsten Moment erstarrte es in der Luft und zersplitterte dann in unzählige finstere Scherben.
Die Welt der Schatten erbebte unter dem Bruch des Siegels. Die schwarz schimmernden Splitter sausten durch den Park und rissen blutige Wunden in die Haut der fliehenden Touristen. Einer drang sogar in die Schulter der schattenhaften Manifestation Jonas Mandelbrodts. Der Alte spürte, wie der Schmerz des Jungen das Dunkel durchzuckte, und dann, wie er sein Entsetzen über das Ende der Stiny und den Bruch des dritten Siegels überwand. Staunend gewahrte der Alte, wie Zorn und Wut im Schatten Jonas Mandelbrodts explodierten und alle Vernunft verdrängten. Er spürte den Verlust des Knaben, ahnte, was Erzsebet Stiny ihm bedeutet hatte.
Und dann, ohne dass er etwas hätte tun können, sprang der Junge dem Sturm plötzlich entgegen. Bereit, sich ihm zu stellen.
Ungläubig wurde der Alte Zeuge dieses Schauspiels und verstand dennoch nicht. Wenn Erzsebet Stiny, der Sturm und Jonas Mandelbrodt alle Teil von George Ripleys Plan waren, warum kämpften sie gegeneinander? Das Handeln dieses Jungen, seines Schattens schien dabei um so vieles menschlicher als alle anderen. Die Gedanken des Ältesten überschlugen sich im Dunkel, als der Schatten Jonas Mandelbrodts wütend in den Sturm drang.
Kaum einen Wimpernschlag später wurde er mit unbändiger Kraft wieder aus dessen Inneren herausgeschleudert. Der Schemenkörper des Jungen schlug gegen den unförmigen Felsen, der nunmehr schattenlos im Herzen des Parks stand. Jonas verlor seine Form. Seine Gestalt zerfloss im Gras und war plötzlich bloß noch ein gewöhnlicher Schatten.
Und im gleichen Augenblick schwand der Sturm über Bomarzo, löste sich von einem Moment auf den anderen auf, ebenso schnell, wie er gekommen war. Zurück blieb der verwüstete Park, der wirkte, als ob die Monster in seinem Inneren bis zum Letzten gegeneinander gekämpft hätten …
Zögernd näherte der Älteste sich dem Schatten Jonas Mandelbrodts, der reglos am Boden lag. Er umfuhr ihn. Und einen kurzen Moment lang war er versucht, dem Ganzen hier und jetzt ein Ende zu bereiten, den Jungen aus dem Inneren der Schwärze zu zerren und zu verschlingen. Etwas aber ließ ihn zögern. Und kurz darauf wagte es der Älteste stattdessen, sich mit dem Schatten Jonas Mandelbrodts zu mischen.
Er wollte wissen, wer dieser Junge war, was ihn antrieb und weshalb die Schatten des Schicksals so sonderbar fielen …
In ebendem Moment, als Jonas Mandelbrodt zu schwach war, um sich gegen den Ältesten zur Wehr zu setzen, und als der Herr des Rates beschloss, ihn zu erkennen, statt zu vernichten, begann der Marsch auf Ambrì.
Boris de Maester hatte eine beeindruckende Privatarmee aufgestellt. Hundertfünfzig Mann in Waffen, ausgerüstet mit der modernsten Technik, allesamt auf den Rat eingeschworen und motiviert durch eine horrende Summe, die sie bei Erfolg ihrer Mission, bekommen sollten, waren ausgezogen, zwei Kinder dem Gleichgewicht zu opfern.
An ihrer Spitze stand de Maester selbst. Er hatte seinen Anzug gegen eine Uniform getauscht und führte seine Truppen mit verbissener
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