Der letzte Schattenschnitzer
sondern auch die Rache geboren hatte …
Erzsebet Stiny blieb einen Moment lang stehen und zog ihr Zigarettenetui hervor. Als sie sich eine ansteckte, lächelte sie Jonas an.
»Eigentlich ist das hier ja ein Nichtraucherpark …«
Und obwohl er sich des Ernstes der Situation bewusst war, ja, obwohl er ahnte, dass das Ende der Welt bevorstand und die Schatten sich im Dunkel erhoben, musste auch er im Inneren seines Schattens lächeln.
Sie nahm einen Zug, warf ihr Haar über die Schulter zurück und flüsterte ihm zu:
»Komm, lass uns hinüber in den Schatten der Sirenen gehen, wo niemand uns sieht. Ich will, dass du Gestalt annimmst und diesen Ort mit all den Sinnen entdeckst, die dein Schatten dich lehrte. Denn glaube mir, er ist so voller Wunder wie kein anderer auf der Welt.«
Elegant schlenderte sie zu den Felsbildnissen hinüber. Jonas folgte ihr, glitt über den Boden und begann dann, sich zu erheben. Während seine dunkle Gestalt menschliche Form annahm, drang in einiger Entfernung ein weiterer Schatten ins Innere des Parks. Sein Herr misstraute Erzsebet Stiny ebenso wie der Wächter. Und er wollte mit seinen eigenen Sinnen Zeuge werden, wie diese Frau ihr Siegel mit aller Macht zu schützen versuchte.
Der Älteste war seinem Verdacht nachgegangen, hatte im Dunkel ihrer Vergangenheit längst vergessenen Erinnerungen nachgespürt und in Schatten und Archiven gestöbert, bis sein Bild von Erzsebet Stiny sich nach und nach vervollständigt hatte. Und auch wenn es der Stiny gelungen war, viele Spuren in ihrem Schatten zu verwischen, und der Älteste keine Spur des Wächters darin fand, so stieß er im Dunkel doch auf die Zeugung ihres Sohnes. Cassus, den sie dem Eidolon geopfert hatte und der nun an Marias Fuß hing.
Der Älteste fragte sich, was in diesem Moment vor sich ging. Denn Erzsebet Stiny war hier, bei ihrem Siegel. Sie hätte es ohne weiteres brechen und so den Plan des Alchemisten vorantreiben können. Bei ihr war noch ein weiterer Schatten, der sich eben jetzt neben ihr am Fuß der Sirenen langsam aus dem Boden zu stemmen begann. Der Alte begriff nicht. Er umfloss die Standbilder, bewegte sich von der Skulptur des Herkules hinüber zur Venus, an der Nymphenfontäne vorbei bis ins Herz des Parks, zum Fuß des unförmigen Felsens. Hier spürte er deutlich den Geist der Nacht und wusste einmal mehr, dass der Italiener wahrlich ein Meister seines Faches gewesen war. Und während er noch jenen älteren Schatten mit dem Bildnis der Nacht und dem Siegel darin fühlte, richtete der Älteste seine Aufmerksamkeit wieder auf die Stiny und den ominösen Schatten, der ihm ebenso verschlossen wie ihr eigener war.
Schnell aber begriff er, wer dort mit ihr im Schatten der Sirenen stand: nämlich kein Geringerer als Jonas Mandelbrodt! Dort, ihm gegenüber, stand der Junge, der das Gleichgewicht ins Wanken gebracht hatte, der Schattenschüler! So nahe, dass er sich nur nach ihm ausstrecken musste, um ihn zu zerschmettern! Womöglich hätte das alles beendet, es aufgehalten. Und wie wenig hätte es dafür doch gebraucht. Der Schatten der Stiny wäre jedenfalls gewiss kein Gegner für ihn gewesen …
Der Schatten des Alten glitt auf die beiden zu. Bevor er sich aber auf den Schatten des Jungen stürzen konnte, zog über dem Park ganz plötzlich ein merkwürdiges Unwetter auf. Wie aus dem Nichts entstand ein Sturm, der von einem Moment auf den anderen zu fürchterlicher Gewalt anschwoll. Und jene, welche die Sprache der Schatten beherrschten, spürten, dass es kein gewöhnlicher war. Dunkel toste er heran, riss die Schatten von den Standbildern, vereinnahmte sie und türmte sich zu einer schauerlichen Finsternis auf, die sich tosend von der breiten, von Platanen gesäumten Allee her dem Herzen des Parks näherte.
Der Park befand sich in Aufruhr, Zweige brachen, Müll wirbelte durch die Luft, und ein Knirschen fuhr durch die alten Steine. Die Touristen flohen. Blätter wurden von den Ästen gerissen, Stämme mit dunklem Knacken entwurzelt. Standbilder verschoben sich, wurden aus dem Erdreich gerissen, und noch immer wuchs die vernichtende Gewalt des Sturmes.
Ungläubig wurde der Alte Zeuge dieses Schauspiels. Hier war kein gewöhnlicher Schatten am Wirken, hier brach sich eine Gewalt Bahn, die seit Jahrhunderten darauf gewartet hatte, ihre Kraft mit der Welt zu messen! Das Eidolon! Und der Sturm hielt direkt auf Jonas Mandelbrodt und Erzsebet Stiny zu!
Der tobende Mahlstrom näherte sich mit unbändiger
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