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Der Letzte Tag Der Schoepfung

Der Letzte Tag Der Schoepfung

Titel: Der Letzte Tag Der Schoepfung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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wachsenden Energie des Kafu-Feldes immer schwächer werden und etwa fünf Stunden vor dem Ausklinken ganz abreißen würde. Dann würden sie isoliert sein, eingeschlossen von einer Mauer aus Zeit, die man Schicht um Schicht um sie errichtet hatte, und sie würden nicht mehr mit Sicherheit sagen können, ob jenseits dieser Mauer noch Gegenwart existierte, oder ob sie schon durch die Abgründe fielen.
    Nein, nein, sagte sich Steve, solange die Käfigwand noch zu sehen ist, befinden wir uns in der Gegenwart, hängen wir noch sicher unter dem Kiel der Edison wie ein Affenjunges unter dem Bauch der Mutter, und doch schaltete er einen der Suchscheinwerfer des Gleiters ein um sich zu vergewissern, löschte ihn wieder und lauschte den Geräuschen, die durch das Ausschleusen und Abfieren des Käfigs verursacht wurden. Kurz darauf schaltete er ihn wieder ein und schwenkte ihn herum, weil er das Plätschern von Wasser gehört zu haben glaubte. Er kletterte hinaus und betrachtete aufmerksam die wabenartige Innenwand des Käfigs. Kein Tropfen Wasser war ausfindig zu machen.
    Einen Moment lang überkam ihn Platzangst. Hastig kletterte er ins Cockpit zurück, drückte sich die Atemmaske ins Gesicht und öffnete die Sauerstoffzufuhr. Er atmete ein paar Mal tief durch, bis das beklemmende Gefühl nachließ, dann lehnte er sich zurück.
    Die Stimme des Ersten Offiziers riss ihn aus dem Schlaf. Er blickte auf die Uhr: Es waren erst sechs Stunden vergangen. Noch etwa 45 Stunden bis zum Ausklinken. Jerome saß fröhlich pfeifend auf dem Campingklo, das er ausgeladen und auf dem Gitterrost neben der Nase des Gleiters aufgebaut hatte.
    Der Erste Offizier wollte wissen, ob alles in Ordnung war.
    »Es geht uns glänzend«, versicherte Steve und hielt die Muschel des Funkgeräts zu, weil Jerome gerade heraufrief, dass es die Navy eine Stange Geld kosten werde, den Haufen, den er mache, ebenfalls über fünfeinhalb Millionen Jahre ins Miozän zu befördern. »Den werden sie mit Gold aufwiegen müssen«, krähte er.
    »Sollen wir euch ein wenig Musik reinspielen?«, fragte der Erste Offizier.
    »Nichts dagegen.«
    Zwei Minuten später konnten sie über Kopfhörer das Nachtprogramm von Radio Algier empfangen.
    Jerome bestand auf ein paar Runden Schach, nachdem sie es sich in der Katze bequem gemacht hatten. Steve verlor jedes Spiel, weil er sich nicht konzentrieren konnte. Jerome aß fast pausenlos. Seine Art mit der Situation fertig zu werden, sagte sich Steve.
    Sie hörten das Vormittagsprogramm des italienischen Rundfunks, dann das Nachmittagsprogramm des Senders Palermo. Schließlich waren sie östlich genug, um das über den nukleargetriebenen Flugzeugträger Richard G. Colbert und die alte Chester W. Nimitz ausgestrahlte Programm des AFN für Südeuropa zu empfangen, doch der Empfang wurde von Stunde zu Stunde schlechter. Auch die Stimme des Ersten Offiziers, die sich in regelmäßigen Abständen meldete, wurde allmählich schwächer und von einem feinen Knistern eingehüllt wie von einem akustischen Gespinst.
    Der nächste Tag verging in quälender Langsamkeit.
    Um sie ballte sich die mächtige Faust aus Energie, die sie über fünfeinhalbtausend Jahrtausende hinweg in die ferne Vergangenheit schleudern würde.
    Jerome saß auf dem Fahrersitz und brütete über einer Karte des westlichen Mittelmeerraums, die er auf dem Armaturenbrett ausgebreitet hatte, um sich markante Punkte der Landschaft einzuprägen. Steve hockte auf dem Rücksitz und las nach langer Zeit wieder einmal Proust. Oben mochte es bereits dunkel sein, vor seinem inneren Auge tat sich die sonnendurchflutete Landschaft von Combray auf: der helle, wie erstarrt wirkende Himmel der Normandie; von Insekten durchschwirrte Stille; schlafende Wasser in überwucherten, von leisem Zerfall durchwitterten Gärten; die von Mohnblumen entflammten Hänge beiderseits des Fahrwegs; die Heckenrosen in ihrer bäuerlich naiven Schlichtheit und die leuchtende, zartrosa überhauchte, beinahe schwerelos wirkende Pracht der Weißdornhecken … Steve hielt plötzlich inne und schloss die Augen. Er hatte alles genau vor sich: die Hecken, die eine unaufhörliche Folge von Kapellen bildeten und ihren Blütenschmuck wie auf Altären darboten; die rotbraune, vom Alter rissige Rinde der Äste, das glatte Hellgrau der stachelbewehrten Zweige, die behaarten jungen Blätter in ihrem frischen Grün und die explodierende Fülle der zartweißen Blütensterne, aus denen wie Protuberanzen die hellroten

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