Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
Vom Netzwerk:
kletterte auf die Fensterbank, kauerte sich zusammen, schob seine linke Schulter zwischen den beiden Fensterflügeln durch, dann das linke Bein, sprang und landete neben Eduardo im Hof.
    Auf der anderen Straßenseite versteckten sie sich hinter einem Müllbehälter.
    Sie hörten die Glocken der Kathedrale. Ein Schlag. Pause. Ein zweiter. Stille.
    »Zwei Uhr morgens! Wenn meine Mutter sieht, dass ich nicht im Bett liege, wird sie sich Sorgen machen.«
    Paulo hoffte inbrünstig, das Gelage, das sein Vater und Antonio in dieser Nacht mit Prostituierten, Schnaps und Gelächter veranstalteten, möge wilder sein denn je.
    »Wenn mein Vater zurückkommt und merkt, dass ich nicht zu Hause bin, bringt er mich um.«
    »Warum schlägt er dich immer?«
    »Nicht immer.«
    »Ich habe dich schon oft mit geschwollenem Gesicht gesehen.«
    »Meine Schuld.«
    »Deine Schuld?«
    »Ich tauge nichts.«
    »Was soll das heißen, Paulo?«
    »Ich tauge nichts.«
    »Ich habe nie gesehen, dass du etwas getan hättest, was …«
    »Ich habe viele schlimme Gedanken«, unterbrach ihn Paulo.
    »An was denkst du denn?«
    »An vieles. An hässliche Sachen.«
    »Zum Beispiel?«
    Paulo schwieg.
    »Du kannst es ruhig erzählen.«
    »Manchmal möchte ich …«
    Wieder verstummte er.
    »Sag schon, Paulo.«
    »Nein, es ist nichts.«
    »Du kannst es mir sagen.«
    Manchmal möchte ich meinem Vater ein Messer ins Herz stoßen, hätte Paulo gern gesagt. Es in ihn hineinrammen. Und dann umdrehen. Ihm die Kehle durchschneiden und ihn ausbluten lassen wie ein Schwein. Ihm ein Auge ausstechen, ihm mit einem Stein den Schädel einschlagen und so lange draufhauen, bis er völlig zermatscht ist, bis keiner sein Gesicht mehr erkennen kann, Benzin über sein Bett schütten, wenn er schläft, und dann ein Streichholz dranhalten, das Haus anzünden und zusehen, wie er und Antonio verbrennen, bis nur noch zwei verschmorte Fleischklumpen übrig sind, ihm in den Mund schießen, ihm in beide Hände und beide Füße schießen, ihm alle Finger abschneiden, einen nach dem anderen, ihm die Nase abschneiden, die Ohren, die Lippen, ihm die Zunge abschneiden, den Schwanz und den Sack. Das alles denke ich, und mein Vater weiß, dass ich es denke, und er weiß, dass ich diese Gedanken habe, weil ich schlechtes Blut habe, ich bin mit diesem schlechten Blut geboren, es ist nicht wie sein und Antonios Blut, ich habe schlechtes Blut wie die Familie meiner Mutter, und das weiß er, und wenn ich diese Gedanken nicht aus meinem Kopf rauskriege, dann tue ich das alles irgendwann noch, weil … weil ich … von perversen Gelüsten getrieben bin, hätte er gesagt, wenn er sich hätte bewusst machen können, was ihn nach jedem Gewaltausbruch seines Vaters packte und lange Zeit nicht mehr losließ. Aber er sagte nur: »Sachen eben. Schlimme Sachen. Aus Wut.«
    Eduardo verstand nicht.
    »Warum behandelt dein Vater dich so?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Mag er dich nicht?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Aber wenn du diesen Fall hier löst, wird er dich mögen.«
    »Ja.«
    »Er wird stolz auf dich sein.«
    »Ja.«
    »Wenn du beweist, dass der Zahnarzt seine Frau nicht ermordet hat, wird er dich besser behandeln. Oder?«
    Paulo antwortete nicht. Er sah schweigend auf die andere Straßenseite hinüber, wo er plötzlich eine Gestalt bemerkte, die aus dem Haus des Zahnarztes kam und davonging, weg von der Stelle, an der sie saßen.
    Sie folgten ihr.
    Ob es nun am holperigen Pflaster lag oder an der Steigung der Straße, jedenfalls ging der Mann langsam und hielt sich in der Straßenmitte. Sooft er in den Lichtkreis einer Laterne trat, konnten sie ihn deutlicher erkennen. Klein. Mager. Jackett. Weißes Haar. Oder graues.
    Wenn er sich umgedreht hätte, hätte er zwei Jungen gesehen, die ihm, dicht an die Wände der alten Häuser gedrückt, nachschlichen, von Schatten zu Schatten huschend wie in den Detektivfilmen, die sie gesehen hatten. Aber der kleine magere Mann im Jackett und mit dem weißen oder grauen Haar ging gemächlich weiter. Ging er etwa spazieren? Um zwei Uhr morgens?
    Dann bog er nach links in eine Gasse ein.
    Eduardo und Paulo setzten sich in Trab, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Das war nicht nötig: Er behielt seinen kurzen, gleichmäßigen Schritt bei.
    So gelangte er zur nächsten mit Kopfstein gepflasterten Straße zwischen prachtvollen Häusern, die die Kaffeebarone der Region sich Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als Stadtresidenzen hatten errichten lassen. Als die

Weitere Kostenlose Bücher