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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
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meisten von ihnen nach der Abschaffung der Sklaverei ruiniert waren, hatten sie die Häuser verkaufen müssen, oder ihre verarmten Nachkommen hatten sich, von den Plantagen der Väter und Großväter vertrieben, dauerhaft darin niedergelassen, oder aber die Häuser waren zwangsversteigert und an neue Einwanderer aus Europa verkauft worden. Nur wenige von ihnen sahen noch aus wie früher, die meisten waren durch An- und Umbauten verschandelt: Die Fassaden waren modernisiert worden, Steinmetzarbeiten hatten geraden Linien aus Backstein und Zement weichen müssen, bemalte portugiesische Fliesen Mörtel und Farbe, Fensterrahmen aus Fichtenholz Aluminiumrahmen, Tiffanyglasscheiben fleckigen Plexiglasscheiben, hergestellt in den neuen Fabriken, die in São Paulo wie Pilze aus dem Boden schossen. Zwei Häuser waren eingestürzt. Ein drittes, das daneben gestanden hatte, war abgerissen worden, und auf dem dadurch frei gewordenen Gelände hatte man in den späten Zwanzigern ein zweistöckiges Kino in einem Stil errichtet, der vage an Jugendstil erinnerte.
    Der Mann, der keine Eile zu haben schien, blieb vor dem Kino stehen. Er studierte die Anzeigetafel, ein Drahtgeflecht, auf dem in schwarz bemalten hölzernen Großbuchstaben stand: Schießen Sie auf den Pianisten. Das war der Film, der am Abend zuvor gelaufen war. Im Cine Theatro Universo wechselte das Programm, wie in vielen Städten im brasilianischen Hinterland, außer am Wochenende täglich. Es wurden französische, italienische, mexikanische, argentinische, deutsche, japanische, amerikanische oder einheimische Filme gezeigt. Der Film für den nächsten Abend wurde auf einer Tafel angekündigt, die auf einem Dreifuß in der Eingangshalle hinter einem Metallgitter stand. Es war ein brasilianischer Film: Um candango na Belacap mit Ankito und dem Großen Otelo. Paulo konnte sich über die beiden halbtot lachen, Eduardo sah lieber Oscarito. In den Außenvitrinen hing ein Plakat in Rottönen, das vorerst nur den amerikanischen Titel zeigte – West Side Story –, und ein anderes in Schwarzweiß mit einer blonden Frau in einem Brunnen unter dem Namen Frederico Fellini und den drei Wörtern A doce vida .
    Paulo, der hinter Eduardo stand und das Gesicht des Mannes, den sie verfolgten, nicht sehen konnte, stellte die verschiedensten Theorien auf.
    »Er ist ein Tatverdächtiger.«
    »Warum?«
    »Nennt man das nicht so, wenn jemand ein Mörder sein könnte?«
    »Tatverdächtiger, ja, das ist das richtige Wort.«
    »Na also, genau das ist er. Guck doch nur, wie er dasteht.«
    »Er hat die Hände in den Jackentaschen und sieht sich die Filmplakate an.«
    »Wenn er nicht verdächtig ist, was hatte er dann beim Zahnarzt verloren?«
    »Was glaubst du?«
    »Er wollte Tathinweise vernichten! Ich wette, er ist der wirkliche Mörder.«
    »Er ist genauso klein wie der Zahnarzt. Und mager ist er auch.«
    »Und wenn die beiden es zusammen gemacht haben? Während sie mit dem einen gekämpft hat, hat der andere sie erstochen.«
    »Im Haus war nichts zerbrochen. Keine Kampfspuren. Wir haben keinerlei Beweise gefunden.«
    »Weil der Tatverdächtige aufgetaucht ist. Wir mussten ja abhauen.«
    »Der und verdächtig? So ruhig, wie der ist?«
    »Aber wer ist er dann? Was hatte er beim Zahnarzt zu suchen?«
    Paulos Tatverdächtiger wandte sich um und ging ein paar Schritte weiter, bis zu dem Platz, der nach einem in der Schlacht von Monte Cassino gefallenen Lokalhelden benannt war, bei den Einwohnern aber nur der Obere Gartenplatz hieß. Der Mann mit dem weißen oder grauen Haar stieg die vier Stufen des Musikpavillons hinauf, der in der Mitte des Platzes stand und wie eine chinesische Pagode aussah, lehnte sich an die gusseiserne Balustrade, die den Eindruck erwecken sollte, sie sei aus Bambusrohr, sah sich um, ging wieder hinunter und setzte sich auf eine Bank.
    »Hast du sein Gesicht gesehen?«
    »So ungefähr.«
    »Wer ist das?«
    »Ich glaube, ich kenne ihn nicht.«
    »Hast du ihn noch nie gesehen?«
    »Ich glaube nicht.«
    Im Schatten der Marquise des Kinos verborgen, beobachteten sie, wie der Mann einen Gegenstand aus der Innentasche seines Jacketts zog, konnten aber nicht erkennen, was es war. Anschließend schien er etwas zu schreiben. Er brach ab, betrachtete das Ding in seiner Hand, schien noch ein wenig weiterzuschreiben und steckte was auch immer es war zuletzt wieder in die Tasche. Er schlug die Beine übereinander und blieb so eine Weile sitzen. Dann stand er auf, sah sich um, als

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