Der letzte Tag der Unschuld
Elends und kaputter Leiber, die alles übertraf, was sie jemals für möglich gehalten hätten.
»Er ist nicht hier. Keiner von denen hier ist der Mann, der gestern Nacht über die Mauer geklettert ist.«
»Er muss aber hier sein. Wir haben ihn reingehen sehen«, beharrte Paulo, das Seil über die Schulter gelegt.
»Sieh dir doch nur diese Alten an, Paulo!«
Die Männer hier im Hof waren lauter von der Gesellschaft Geächtete. Verstoßene, Verrückte, Kranke, Alkoholiker, Debile, Analphabeten, Bettler und Krüppel, die man sich selbst überlassen hatte. Der Auswurf eines Landes, das in den letzten Jahren immer moderner und mächtiger geworden war und sich zu einer Industrienation gemausert hatte. Ein Land im Südamerika der Bananenrepubliken, das sich durch die Produktion von Drehbänken und Autos, Lastwagen, Traktoren, Kühlschränken, Lampen, Mixern, Fernsehapparaten und Stereoanlagen, Schuhen, Erfrischungsgetränken und Waschmaschinen allmählich aus der Dritten Welt herausmanövrierte, ein Land, dem es gelungen war, innerhalb von nur fünf Jahren echter Demokratie um fünfzig Jahre voranzuschreiten, ein Land, in dem für diese Männer kein Platz mehr war.
»Keiner von denen hätte in das Haus vom Zahnarzt einsteigen können. Und den Trick mit dem Seil hätten sie auch nicht hingekriegt.«
»Vielleicht versteckt er sich irgendwo im Haus?«
»Die sind doch alle hier draußen und genießen die Sonne. Da drinnen sind bestimmt nur noch die, die richtig krank sind.«
»Und das heißt?«
»Er ist nicht von hier. Er ist hier reingegangen, aber er kommt woanders her«, schloss Eduardo, drehte sich auf dem Absatz um und ging Richtung Ausgang. Paulo folgte ihm.
»Und jetzt?«
»Jetzt gehen wir.«
»Also lassen wir den Verdächtigen entkommen.«
»Was für einen Verdächtigen, Paulo? Sieh dir die Alten hier doch mal an.«
»Ich sehe sie.«
»Und siehst du irgendeinen, der dem Mann von heute Nacht ähnlich ist?«
»Nein. Niemanden. Warte mal …«
Sie blieben stehen. Paulo zeigte auf ein Paar: Ein Alter schien sie aufmerksam zu betrachten, der andere hielt sich eine Zeitung vors Gesicht und tat, als würde er lesen.
»Die beiden.«
»Der eine ist kahl. Der andere ist groß. Unser Verdächtiger ist klein und hat weißes oder …«
Eine Stimme hinter ihnen unterbrach ihn: »Spielst du Schach?«
Es war der Mann am Schachbrett. Er zeigte auf den leeren Stuhl ihm gegenüber. »Lust zu spielen?«
»Nein danke. Wir wollten gerade gehen.«
»Und wir kennen die Regeln von dem Spiel nicht«, fügte Paulo hinzu.
»Keiner von euch beiden kann Schach spielen?«
»Mein Vater spielt mit meinem Bruder manchmal Dame. Ist das das Gleiche?«
»Kennt ihr das Spiel überhaupt?«
»Ich habe es schon mal im Fernsehen gesehen«, antwortete Eduardo.
»Du hast ein Fern-seh-gerät?«, fragte der Alte verwundert, wobei er die Bestandteile des Wortes einzeln aussprach. »Ich habe noch nie ferngesehen. Ich habe gehört, es soll so gut sein wie Kino. Ist das wahr?«
»Ach nein. Es ist alles schwarz-weiß. Aber bei mir zu Hause haben wir kein …«
»Dein Fern-seh-gerät ist nicht in Technicolor?«
»Es gibt nur Schwarz-Weiß-Fernseher. Und außerdem verwackelt das Bild immer. Es ist, als würde eine Welle hindurchlaufen. Verstehen Sie?«
»Es zerfließt?«
»Ja, genau, es zerfließt. Die Schauspieler sind verzerrt. Der Bildschirm ist klein und steckt in einem Kasten. In dem Kasten sind viele Drähte und Röhren drin, so ähnlich wie Lampen. Nur anders. Verstehen Sie?«
»Deine Familie muss aber wohlhabend sein. Ein Fern-seh-gerät ist teuer.«
»Nein, nein, wir sind nicht reich. Und wir haben kein …«
»Eduardos Vater ist Mechaniker bei der Eisenbahn«, erklärte Paulo.
»Ich habe bei meinem Onkel ferngesehen.«
»In Rio de Janeiro«, fügte Paulo hinzu.
»Dann ist dein Onkel sicher ein vermögender Mann.«
»Ja, ich glaube schon. Ja.«
»Sein Onkel wohnt in einem Viertel namens Tijuca. Dort hat jeder ein Auto.«
»Mein Onkel hat einen Aero-Willy, kennen Sie die? Das ist ein großer Wagen, da passen sechs Leute rein.«
»Sein Onkel ist Flugzeugmechaniker.«
»Er arbeitet bei der brasilianischen Panair.«
»Sein Onkel war schon in Europa und in den Vereinigten Staaten.«
»Die brasilianische Panair ist eine Fluggesellschaft, kennen Sie sie? Eine der größten der Welt. Er ist mein Onkel, weil er mit meiner Tante verheiratet ist. Mit der Schwester meiner Mutter.«
»Sein Onkel war schon zwei Mal in
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