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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
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Stadt herumtreibt?«
    »Es war nur dieses eine Mal!«
    »Bitte erzählen Sie’s nicht meinem Vater!«
    »Schach ist ein sehr interessantes Spiel, wisst ihr? Ich glaube, ich kann ohne Übertreibung behaupten, dass das Schachspiel einen – metaphorisch gesprochen, natürlich – sehr gut auf die Wechselfälle des Lebens vorbereitet, versteht ihr?«
    »Ja«, log Eduardo. Er hätte sonst was eingestanden, um aus dieser Lage herauszukommen.
    »Was heißt metaphorisch? Und was sind Wechselfälle?«
    »Ich erklär’s dir später, Paulo.«
    »Und was hatten Sie beim Zahnarzt zu suchen?«
    »Das Leben hier im Altersheim ist todlangweilig. Ich bin nicht von der Fürsorge hier untergebracht worden wie die anderen armen Teufel, müsst ihr wissen. Ich zahle meinen Aufenthalt hier aus meinen Altersbezügen.«
    »Was für Bezüge?«, fragte Paulo, der Schwierigkeiten hatte, den Dialekt des Mannes zu verstehen.
    »Altersbezüge«, erklärte Eduardo, »das hat nichts mit Bettbezügen zu tun. Geld, Einkommen.«
    »Ja, mein Geld, mein Einkommen«, stimmte der Alte zu. »Meine Pension. Ich schulde niemandem etwas.«
    »Sie sind auch an den Tatort vorgedrungen!«, rief Paulo aufgebracht.
    »Ich bin nirgendwo eingedrungen. Die Alten hier reden immer bloß von früher. Wenn sie überhaupt noch über irgendwas reden können. Und das Einzige, worüber die Nonnen reden, ist das Himmelreich. Nach dem Abendessen wird das Tor abgeschlossen. Um acht Uhr abends müssen alle ins Bett! Ich habe nur vom Weltraumflug erfahren, weil ich gestern ausgebüxt bin. Der erste Weltraumflug der Menschheitsgeschichte, und die Nonnen und die Alten haben ihn nicht mal erwähnt!«
    »Juri Gagarin«, erinnerte sich Paulo.
    »Die Erde ist blau«, zitierte Eduardo.
    »Ein Russe«, fügte Paulo hinzu.
    »Ich halte es nicht aus, hier drinnen eingesperrt zu sein. Gib mir das Seil.«
    Paulo sah Eduardo an, der nickte leicht mit dem Kopf, und Paulo reichte dem alten Mann das Seil.
    Der griff nicht danach.
    »Versteck es dort hinter dem Busch.«
    Paulo und Eduardo gingen zur Mauer hinüber, suchten die dichteste Stelle im Gestrüpp und versteckten das Seil dort. Als sie sich umdrehten, war der alte Mann schon auf dem Weg ins Haus, unterm Arm die Schachtel mit dem Schachspiel.
    Eduardo saß auf der Straße vor der Mauer des Altersheims und pfiff vor sich hin. Er pfiff leise, unbewusst, während er auf Paulo wartete, den Blick unverwandt auf den Himmel gerichtet, in der Hoffnung, eine Sternschnuppe zu erhaschen.
    Anfangs pfiff er keine bestimmte Tonfolge. Ein Junge, der im Dunkeln nur zu seinem Vergnügen vor sich hin pfiff. Doch nach und nach reihten sich die Töne aneinander, ohne dass er es merkte, jede Note passte zu der vorhergehenden, und gemeinsam bildeten sie allmählich eine Melodie, leicht und gleichmäßig wie Schritte, die über einen hellen kalten Boden gleiten. Schließlich wurde aus dem Auf und Ab der Töne ein Lied, das er schon oft im Kino Theatro Universal gehört hatte und das seine Mutter immer vor sich hin summte, wenn sie über die Nähmaschine gebeugt bei der Arbeit saß und das Pedal den Takt dazu angab. Ihre Stimme, kaum mehr als ein Wispern, klang süß und melancholisch zugleich.
    Amapola,
    Líndísima Amapola,
    Será siempre mi alma, tuya sola.
    Yo te quiero,
    Amada niña mía,
    Igual que ama a la flor,
    La luz del día.
    Die Mauer hinter ihm, die Sterne über ihm, die Pflastersteine zu seinen Füßen, alles um ihn herum verschwamm. Es kam ihm vor, als hätte er das alles schon einmal erlebt, genau das Gleiche, haargenau das Gleiche, irgendwann in der Vergangenheit oder gerade eben erst, und er verstand nicht, was es war und warum ihm Tränen in die Augen stiegen. Schon wieder, dachte er, schon wieder dieses … dieses … was? Es überkam ihn, es fühlte sich an, als würde er eingezwängt, als zerdrückte ihn etwas, als zermahlte ihn etwas zu Staub. Und da. Tief in seinem Inneren. Ein Stich. Fein, ganz, ganz fein. Ein feiner Schmerz. Und es dauerte lange, bis er wieder verging. Oder zumindest nachließ. Und als er schließlich abgeklungen war, wollte er bloß noch stillhalten, nicht lachen, nicht reden, nicht spielen, nur dasitzen und sich nicht rühren.
    Amapola,
    Líndísima Amapola,
    No seas tan ingrata
    Y ámame,
    Amapola,
    Amapola,
    Cómo puedes
    Tú vivir tan sola …
    Wenn er jetzt zu Hause wäre, würde er die Zimmertür abschließen, sich hinlegen, die Augen zumachen und versuchen, seine Niedergeschlagenheit zu überwinden,

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