Der letzte Tag der Unschuld
indem er im Geist unregelmäßige Verben konjugierte; indem er alle Länder Süd-, Mittel- und Nordamerikas samt ihren Hauptstädten aufzählte; indem er die lateinischen Deklinationen wiederholte; indem er – wie er es jetzt gerade tat – die Zuflüsse des Amazonas vor sich hin murmelte, und zwar abwechselnd die rechten – Javari, Juruá, Purus, Madeira, Tapajós und Xingu – und die linken – Içá, Japurá, Negro, Trombetas, Paru und Jari. Und wenn die Vorstellung der riesigen Flüsse, die sich durch den Urwald schlängelten, nicht ausreichte, um ihn zu beruhigen, blieben ihm immer noch die brasilianischen Präsidenten, angefangen bei dem jetzigen und von dort zurück in die Vergangenheit: Jânio Quadros, Juscelino Kubitschek, Getúlio Vargas, Eurico Gaspar Dutra …
»Was machst du denn da?«
Paulo stand vor ihm.
»Ich hab die brasilianischen Präsidenten aufgezählt. Du bist spät dran.«
»Mein Vater und Antonio sind erst spät weggegangen. Ist der Alte schon aufgetaucht?«
»Nein. Wo ist dein Fahrrad?«
»Das hab ich zu Hause gelassen. Dann denken sie, ich wär noch da.«
Eduardo hielt ihm zwei zusammengefaltete Papierstreifen hin. Noch bevor er sie ausgebreitet hatte, wusste Paulo, was er darauf vorfinden würde: die Erklärung der Wörter, die der Alte am Nachmittag benutzt hatte. »Wechselfälle«. »Metaphorisch«. Eduardo besaß ein Wörterbuch. Das hatten in der Schule außer ihm nur die Kinder von studierten Leuten. Aber die zählten nicht: Deren Wörterbücher gehörten den Eltern.
Das Wörtererklären war Teil eines unausgesprochenen Paktes zwischen ihnen: Ob bei Schlägereien oder beim Lernen, stets kam der eine dem anderen zu Hilfe. Die Papierfetzen mit den Worterklärungen – es waren schon viele – versteckte Paulo zwischen Strümpfen und Unterwäsche in einer Ecke des Schranks, damit Antonio sie nicht fand, denn der würde ihn nur auslachen und ihm die Freude daran verderben. »Wörter, Erklärungen, aufbewahrt wie Schätze! Was für ein Schwachsinn, Schwarzer!«
Beglückt atmete Paulo tief ein. Die Luft war erfüllt vom Aroma der Damas-da-Noite. Es war, als würde der schwere Duft ihn von innen streicheln. Leider war ihre Blütezeit fast vorüber. Der Winter stand vor der Tür. Mit der Kälte würden die kelchartigen Blüten mit den perlmuttfarbenen Rändern aus seinem Leben verschwinden. Das Ende des Duftes bedeutete das Ende des Sommers.
»Wie spät ist es?«, fragte er.
Eduardo erhob sich, reckte den Hals, konnte aber die Uhr am rechten Turm der Kathedrale nicht erkennen.
»Kurz nach zehn. Glaube ich jedenfalls.«
Paulo tat, als träte er gegen einen Stein. Dann, als träte er gegen einen Fußball. Und dann stellte er sich vor, das Ganze spiele sich vor dem staunenden Publikum in einem Stadion irgendwo im Ausland ab. Er trug das Trikot der brasilianischen Nationalmannschaft und spielte an der Seite von Zito, Didi, Pelé, Garrincha, Nilton Santos, Bellini, Orlando, Mazzola, De Sordi, Zagallo und Gilmar. Aus Radios und Lautsprechern dröhnten die Stimmen der Sportreporter und übertönten das begeisterte Geschrei der Massen, die sich auf den Straßen und Plätzen im ganzen Land versammelt hatten. Der beeeeste Fußballer aaaaller Zeiten, verehrte Zuhörer, ein Heeeld aller Völker dieser Weeeelt, der Meister aller Meister, meine Damen und Herren, nähert sich dem Tor!
Noch bevor der imaginäre Ball, angetrieben vom mächtigsten Tritt der Sportgeschichte, über den Kopf des blonden Keepers hinwegsausen und im gegnerischen Tor landen konnte, hörte Paulo das Laub des großen Baumes rascheln. Dann erschienen das Seil und die Leiter, und der weißhaarige Mann stieg zu ihnen herunter.
»Was macht ihr denn hier?«, brummte er mürrisch bei ihrem Anblick.
Seil und Leiter waren verschwunden. Paulo fragte neugierig: »Wie haben Sie denn das gemacht?«
»Physik, Logik und Freiheitsdrang«, antwortete der Mann, während er sich die Hände an einem Taschentuch sauber rieb.
Paulo lächelte. Die Miene des Alten verdüsterte sich.
»Es ist schon spät. Da sollten kleine Jungs eigentlich im Bett sein.«
»Ich bin kein kleiner Junge, und Eduardo auch nicht. Wir sind fast dreizehn!«
Eduardo kam gleich zur Liste der Fragen, die er sich mit Paulo zurechtgelegt hatte.
»Haben Sie beim Zahnarzt vielleicht …?«
»Verschwindet!«, unterbrach ihn der Mann.
»Wir wollten doch bloß …«, setzte Paulo an.
»Husch, husch!« Der Mann wedelte mit den Händen, als wollte er ein
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