Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
Vom Netzwerk:
wäre er unschlüssig, welche Richtung er einschlagen sollte, und ging davon.
    Er lief hangabwärts, vorbei an den unbeleuchteten Schaufenstern der Geschäfte. Unten angekommen, führte ihn eine andere Straße den Hang hinauf in den höchsten Teil der Stadt zu der zweitürmigen, pompösen Kathedrale, die ein Vertreter des jungen Kaisers Pedro II . 1835 als Symbol der Frömmigkeit und der wirtschaftlichen Macht der Kaffeebarone eingeweiht hatte.
    Der Mann ging rechts um die Kirche herum und eine kleine Straße hinunter, wie zuvor immer in der Straßenmitte. Dort, wo die Straße wieder eben verlief, stand ein Haus mit einer roten Backsteinfassade und Kippfenstern. Über der Inschrift »Textilfabrik União & Progresso« thronte auf einer Erdkugel ein weiß gestrichener Zementadler mit Baumwollzweigen in den Klauen und einer Bronzeplatte im Schnabel, auf der »Eröffnet 1890« stand. Hier hatte Paulos Mutter als Weberin gearbeitet. Hier hatte sie ihren späteren Ehemann kennen gelernt, der in der Färberei beschäftigt gewesen war, bevor er Arbeit im Schlachthof fand.
    »Was glaubst du, wohin geht er?«
    »Ich weiß es nicht, Paulo. Nach Hause?«
    »Er geht immer weiter.«
    Die Gegend, die der Mann jetzt durchquerte, kannten beide kaum. Die Häuser wurden spärlicher, zwischen ihnen lag immer öfter Brachland, manchmal von Backsteinmauern oder Bambuszäunen umgeben. Viele Grundstücke waren mit hohem Gras oder jungen Bäumen überwuchert. Dann folgte eine lange, dicke, mit Flechten übersäte Steinmauer, auf deren Krone Steinraute und Fleißiges Lieschen wuchsen. An der dunkelsten Stelle ragten die kräftigen Äste eines Baumes herüber, der hinter der Mauer stand.
    Unter diesen Ästen blieb der Mann dicht an der Mauer stehen. Er hob die Arme, schien nach etwas zu tasten, fand es: ein Seil. Als er daran zog, was ihn einige Mühe kostete, erschienen auf der anderen Seite der Mauer zwei Holzstangen mit Querbalken dazwischen. An einem davon war das Seil befestigt. Eine Leiter.
    Nachdem er sie bis zum Pflaster heruntergezogen hatte, lehnte der Mann mit dem grauen oder weißen Haar die Leiter an die Mauer. Vorsichtig erklomm er Sprosse um Sprosse und nahm schließlich auf der Mauerkrone Platz. Mühsam das Gleichgewicht haltend, zog er die Leiter am Seil zu sich hinauf. Dann ließ er sie an der Innenseite der Mauer wieder hinab. Er hielt sich an einem Ast fest, setzte erst einen Fuß auf eine Sprosse, dann den anderen, ließ den Ast los, hielt sich mit beiden Händen an der Leiter fest und verschwand jenseits der Mauer.
    Die Jungen liefen zu der Stelle. Das Seil schwang noch immer zwischen den Ästen hin und her. Ein kurzer Blickwechsel genügte.
    »Ihm nach!«
    Paulo machte eine Räuberleiter, und Eduardo stieg hinauf, um nach dem Seil zu greifen. Er bekam es zu fassen, doch dann plumpste er auf sein Hinterteil. Das Seil landete zwischen seinen gespreizten Beinen. Es war nicht mehr an der Leiter befestigt.
    Einen Moment lang waren die Jungen verblüfft und enttäuscht, dann fassten sie sich wieder. Paulo wickelte das Seil auf, während Eduardo nach einem Eingang suchte. Er ging an der Mauer entlang, bis er auf ein doppelflügeliges Holztor stieß, das fast genauso hoch wie die Mauer war. Es war verriegelt. Ein Schild hing daran, mit der Aufschrift: »Altersheim Simão«.
    In der Ferne schlug die Uhr der Kathedrale ein, zwei, drei Mal.

3
    Cowboys und Indianer
    Der Alte schlief zusammengerollt auf einem Liegestuhl aus Segeltuch, vor der Nachmittagssonne durch das Blattwerk des Baumes geschützt, der seine Äste über die Mauer reckte. Aus seinem geöffneten Mund rann ein feiner Speichelfaden über sein Kinn und hinterließ einen feuchten Fleck auf dem Kragen seines Kittels. Unter seinem schütteren Haar waren dunkle Hautflecken zu sehen. Ein anderer Alter, noch im Schlafanzug, lächelte die Jungen zahnlos an. Weiter hinten spielten zwei Männer Karten, ein dritter saß reglos vor einem Schachbrett, ein vierter blätterte in einer Zeitschrift. Auf der Bank an der Mauer wiegte sich ein rothaariger, sommersprossiger Mann vor und zurück und summte tonlos eine Melodie vor sich hin. Noch weiter hinten ließ sich ein dicker Mann auf Krücken in der Sonne nieder und streckte sein einziges, bandagiertes Bein von sich. Sein Gesicht war von bläulich-roten offenen Stellen übersät. Neben ihm lag jemand in Decken gehüllt auf einem Rollbett und stöhnte.
    Eduardo und Paulo fühlten sich verloren inmitten dieser Ansammlung menschlichen

Weitere Kostenlose Bücher