Der letzte Tag der Unschuld
»genau« verlangte von ihnen, ihre Absichten zu präzisieren, und das konnten sie nicht. Aber sie klammerten sich an ihren Verdacht, genährt durch unzählige Filme und Melodramen, an deren Titel sich spätere Generationen schwerlich erinnern würden, an den Verdacht, dass die angebliche Lösung im Mordfall der blonden Frau falsch war. Doch wie konnten sie eine so unsinnige Vermutung äußern und noch dazu den Alten überreden wollen, sich ihnen anzuschließen? Eduardo musste ihm einen guten Grund nennen, aber er hatte keinen. Sie beide hatten keinen. Also musste sich Eduardo eine Lüge einfallen lassen. Jetzt sofort. Eine überzeugende Lüge. Aber die Vorstellung, eine Lüge ersinnen zu müssen, um jemanden davon zu überzeugen, eine Reihe anderer Lügen infrage zu stellen, die die ganze Stadt glaubte, verwirrte ihn. Er schwieg. Er fand nicht die richtigen Worte. Paulo sah ihn besorgt an. Wieder war es der Alte, der das Schweigen brach.
»Also …«
»Nur noch eine Minute«, bat Eduardo, um Zeit zu gewinnen.
»Ihr …«
»Er wird es Ihnen schon noch erklären. Das wirst du doch, Eduardo, oder?«
»Wir …«, setzte Eduardo an, wusste nicht weiter und verstummte.
»Ihr wollt also weiter ermitteln, wie ihr es eurer Meinung nach seit der ersten Nacht nach dem Mord getan habt, als ihr in das Haus des Zahnarztes eingebrochen seid.«
Paulo setzte an, um den Einbruch abzustreiten, aber der Mann ließ ihn nicht zu Wort kommen. Er ratterte los, als hätte er seine Worte vor langer Zeit auswendig gelernt: »Ihr dachtet also, ihr könntet die Suche auf eigene Faust durchführen, aber dann habt ihr gemerkt, dass ihr von nun an nur mit meiner Hilfe weiterkommt, weil ihr glaubt, eine Spur oder ein Indiz gefunden zu haben, das vielleicht wichtig sein könnte, vielleicht aber auch nicht, das aber helfen oder sogar entscheidend sein könnte, um den Mord aufzuklären, das euch bisher aber noch nicht weitergebracht hat, weil ihr nicht wisst, was ihr mit dem, was ihr gefunden habt, anfangen sollt. Ist es das, was ihr mir sagen wolltet?«
»Genau«, stimmte Eduardo zu.
»Und ihr seid zu mir gekommen, obwohl ihr mich für einen alten Spinner haltet, weil ihr sonst niemanden habt, den ihr um Hilfe bitten könntet.«
Darauf wussten weder Paulo noch Eduardo etwas zu erwidern.
»Ist es das? Wollt ihr ermitteln?«
»Ja, das wollen wir!«, rief Eduardo ermutigt.
»Ja, das wollen wir!«, echote Paulo.
»Auch wenn es möglicherweise niemanden interessiert, wer der wahre Mörder ist?«
»Also glauben Sie, dass es nicht der Zahnarzt war?« Eduardo schrie seine Frage fast heraus.
Der Mann vergrub seine Hände in den Jacketttaschen, sah erst den einen Jungen an, dann den anderen und fragte zurück: »Wisst ihr, wo die Geburtsurkunden aufbewahrt werden?«
»Im Rathaus«, antwortete Paulo wie aus der Pistole geschossen.
»Im Stadtarchiv im Rathaus«, verbesserte ihn Eduardo.
»Kommt ihr da hinein?«
»Klar«, sagte Paulo.
»Kommt ihr jetzt da hinein?«
»Mitten in der Nacht?«, fragte Eduardo verwundert. »Das Archiv ist geschlossen.«
»Genau deswegen habe ich gefragt, ob ihr reinkommt.«
»Klar kommen wir da rein«, versicherte Paulo.
»Wir können es versuchen.«
»Wir kommen überall rein! Jederzeit!«
Der Alte trat dicht an sie heran und flüsterte: »Na gut: Dann sollten wir uns organisieren und an die Aufgabenverteilung machen.«
Paulo stieg als Erster hinunter. Das Seil um den linken Fuß geschlungen ließ er sich langsam hinab, mit den Händen das Gleichgewicht haltend, während sein Körper leicht wie ein Pendel hin und her schwang. Er kam mit dem rechten Fuß auf dem Boden auf, dann löste er den anderen aus der Schlinge. Als er spürte, dass er mit beiden Füßen fest auf dem Boden stand, sah er sich um.
Das Licht einer Straßenlaterne drang durch die staubigen Gardinen der beiden hohen Schiebefenster. Von einem langen Tisch und einem bauchigen kleinen Rollladensekretär abgesehen, stand der ganze Saal voller Metallregale. Sie zogen sich über seine gesamte Länge an den Wänden entlang und in zwei Reihen mitten durch den Raum, mit schmalen Gängen dazwischen, und waren vollgepackt mit großen, fest eingebundenen Folianten, auf deren Rücken römische Ziffern und Buchstaben prangten.
Paulo zog einen der am nächsten stehenden Bände zu sich heran. Ein rascher Blick genügte ihm. Bestätigend reckte er beide Daumen zur Holzdecke hinauf, wo eine rechteckige Öffnung Zugang zum Dachboden gewährte. Das sollte
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