Der letzte Tag der Unschuld
keinen Sinn.«
»Ich bin kleiner, aber trotzdem älter«, beharrte Paulo. »Und ich wachse noch. Mein Bruder ist fast eins achtzig. Mein Vater auch.«
»Auch wenn diese Nonnen noch so käuflich und bestechlich sind …«, murmelte der weißhaarige Mann weiter, wie zu sich selbst. »Selbst dann ergibt es keinen Sinn.«
»Wovon reden Sie?«, erkundigte sich Eduardo.
Wieder zog der Mann die Streichholzschachtel aus der Tasche, steckte die Zigarette, von der nur noch ein Stummel übrig war, hinein und verstaute die Schachtel im Jackett.
»Wie konnten die Nonnen des Waisenhauses zulassen, dass ein … dass ein Mädchen von gerade mal fünfzehn Jahren einen fast fünfzigjährigen Mann heiratete? Noch nicht mal in mexikanischen Melodramen habe ich so ein dickes Ding gesehen!«
»Vielleicht war der Zahnarzt ihr Vater?«, mutmaßte Paulo.
»Und er hat den Nonnen sein Geheimnis verraten!«, spann Eduardo die Phantasiegeschichte seines Freundes fort. »Und sie haben geheiratet, damit sie sein Vermögen erben kann.«
Der weißhaarige Mann stand auf und ging zum Musikpavillon hinüber.
»Ein Mann, der bis weit in seine Vierziger hinein Junggeselle war …«, murmelte er, »heiratet ein fünfzehnjähriges Mädchen …«
Die beiden Jungen folgten ihm.
»Doktor Andrade liebte ihre Mutter, und als diese starb …«, sagte Eduardo.
»… er lebt zehn Jahre mit ihr zusammen, wird ständig betrogen, ohne dass es ihm etwas ausmacht …«
»Der Zahnarzt hat ihre Mutter umgebracht!« Jetzt war Paulo an der Reihe. »Nein! Er hat den Vater umgebracht! Und dann hat er aus Reue sie geheiratet!«
»… und es war ihm egal, was in der ganzen Stadt getratscht wurde …«
Paulo hatte eine neue Idee: »Ihr Vater war ein Nazi!«
Eduardo fügte hinzu: »Und ihre Mutter starb in einem Konzentrationslager!«
»… und er hat die giftigen Bemerkungen der alten Betschwestern überhört, wenn er sonntags Arm in Arm mit ihr in die Kirche ging …«
»Sie war das Kind einer Nonne und eines Priesters!«, fiel Paulo ein.
»… er hat so getan, als würde er die abfälligen Blicke nicht bemerken, wenn er mit ihr beim Sonntagsspaziergang über diesen Platz ging …«
»Sie war seine jüngere Schwester!«, schlug Eduardo vor.
»… nachts schlief er allein, im Einzelbett …«
»Die Nonnen! Die Nonnen haben sie umgebracht!«, mutmaßte Paulo.
»…während sie sich mit anderen Männern herumtrieb. Immer mit älteren Männern.«
»Sie war die Geliebte des Priesters, der der Liebhaber der Nonnen war«, spekulierte Eduardo.
Inzwischen waren sie beim Musikpavillon angekommen. Die Jungen umkreisten den Alten, der im Pavillon auf und ab ging. Er blieb stehen, sie gingen weiter im Kreis herum und hörten ihm aufmerksam zu.
»Von einem Priester weiß ich nichts. Aber dass sie etwas mit dem Bürgermeister hatte, das haben mir meine Freunde aus der Bar erzählt. Und mit dem Direktor der Tuchfabrik. Mit den Großgrundbesitzern. Mit allen mächtigen Männern dieser Stadt. Und immer, immer waren sie viel älter als sie. So, als würde sie von einem zum anderen weitergereicht. Habt ihr sämtliche Schubladen im Haus des Zahnarztes durchsucht?«
Eduardo war sich nicht sicher, vermutete aber, dass sie alles gesehen hatten.
»Wart ihr im Dienstmädchenzimmer?«
Paulo berichtete, dass es kein Dienstmädchenzimmer gab, dass das Ehepaar gar kein Hausmädchen beschäftigte.
»Habt ihr etwas mitgehen lassen? Irgendwelchen Schmuck?«
»Wir sind doch keine Diebe!«
»Ich habe kein einziges Schmuckstück gefunden«, fuhr der Alte fort, ohne auf Paulos Protest einzugehen. »Nichts. Keinen Ring, kein Armband, nicht mal ein Medaillon. Meine Freunde haben mir gesagt, dass sie niemals Schmuck trug. Nur den Ehering. Wie erklärt sich, dass die Frau eines so angesehenen Mannes keinen Schmuck trägt? Eine Kette, Ohrringe oder auch nur eine Brosche? Und dass sie kein Dienstmädchen hat?«
»Vielleicht war der Ehemann ein alter Geizkragen?«, fragte Eduardo.
»Ein Knicker«, sagte Paulo.
»Ein Knauser!«
»Vielleicht. Aber trotzdem …«
Der Alte beendete den Satz nicht. Er ließ den Blick über den stillen Platz schweifen. Die Schatten verschmolzen mit den Umrissen der jahrhundertealten Bäume, bildeten eine dunkle Kuppel, als gäbe es jenseits von ihnen keine Welt. Schließlich fragte er: »Und keiner dieser reichen Männer hat ihr etwas geschenkt?«
Paulo und Eduardo wussten nicht, was sie darauf erwidern sollten. Oder ob der Alte überhaupt eine
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