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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
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Siegeszeichen die …«
    Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Der Alte wandte sich ab und ging davon. Ratlos blieb Eduardo stehen.
    »Der, der sie umgebracht hat …«, setzte er wieder an, dann brach er ab.
    Er kam sich dumm vor. Der unsichtbare Junge. Der für die Erwachsenen unsichtbare, unnütze Junge. Der für diesen Erwachsenen unnütze, unsichtbare, dumme Junge. Der für alle Erwachsenen dumme, unsichtbare, unnütze, lächerliche Junge. Sein Herz klopfte wild. Er hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen.
    Paulo lief dem Alten noch ein paar Schritte hinterher. Ein paar Mal setzte er vergeblich zu einer Erklärung über Cowboys und Indianer, Siedler und Überfälle aus dem Hinterhalt, Siege und Skalps an. Dann blieb er stehen und verstummte. Er wandte sich zu seinem Freund um, breitete die Arme aus und hob die Schultern, sein ganzer Körper die Frage: Und nun? Das war nicht die Reaktion, die sie erwartet und erhofft hatten, um ihre Suche nach dem wahren Mörder fortzusetzen. Auf so viel Missachtung waren sie nicht gefasst gewesen. Und jetzt? Was machen wir jetzt?
    Eduardo spürte, wie sein Gesicht glühte. Die Hitze verbreitete sich rasch über seinen ganzen Körper, und plötzlich und gänzlich unerwartet vernahm er einen gellenden Schrei. Paulo riss die Augen auf.
    »Haltet ihn! Haaaltet ihn! Der Alte will abhauen!«
    Der größte Schreck durchfuhr Eduardo, als er bemerkte, dass er selbst derjenige war, der da schrie. Der Schrei drang aus seiner Kehle. Es war seine Stimme, die er in der Stille der Nacht hörte, laut und rau wie nie zuvor.
    »Aufgepasst! Der Alte macht sich aus dem Staub!«
    Nach einem ersten Augenblick der Überraschung stimmte Paulo mit der Begeisterung eines Kindes, das ein neues Spielzeug entdeckt hat, in Eduardos Geschrei ein.
    »Haaaltet ihn! Haltet den Flüchtigen!«
    Der Mann blieb stocksteif stehen. Die Jungen brüllten. Er drehte sich um. Sie brüllten. Er sah sie an. Sie brüllten weiter. Er stemmte die Arme in die Hüften, wie es Erwachsene tun, um wortlos Gehorsam einzufordern. Er verlangte Schweigen.
    Normalerweise hätte Eduardo gehorcht, denn er war ein braver, wohlerzogener Junge. Eigentlich hätte man auch erwarten können, dass Paulo verstummte, nicht weil es seinem Naturell entsprochen hätte, sondern aufgrund seiner Erfahrung als gezähmtes Tier und wegen seiner Erinnerung an die väterliche Gewalt, die in solchen Situationen üblicherweise folgte. Aber die Enttäuschung über die Verachtung und Überheblichkeit, mit der sie sich behandelt fühlten, stachelte ihre Wut und Verbitterung an und verlieh ihnen die Kraft, zum ersten Mal in ihrem Leben offen gegen einen Erwachsenen aufzubegehren. Sie brüllten einfach weiter.
    In einem nahen Haus ging das Licht an. Irgendwo begann ein Hund zu bellen.
    »Pst. Leise!«, befahl der Mann.
    Sie schrien laut, immer lauter, nannten ihn einen alten Knacker, einen verrückten Opa, einen blöden Spinner, alles, was ihnen an Beleidigungen in den Sinn kam.
    »Haltet den Mund! Sofort!«
    Sein befehlender Tonfall schürte nur Eduardos und Paulos Zorn. Sie gaben bloß noch sinnloses Gebrüll von sich. Wüste Beschimpfungen.
    »Seid still! Haltet den Mund! Ihr weckt ja Gott und die Welt auf!«
    Das Gebell wurde lauter. Jetzt waren es zwei Hunde, ein dritter gesellte sich dazu. Am Ende der Straße ging auf einer Veranda das Licht an. Erstaunlich behände ging der Alte mit geballten Fäusten auf sie los. Als er vor ihnen stand, tat Paulo einen Schritt auf ihn zu, herausfordernd, immer noch schreiend.
    »Der Aaaaalte! Er haut aus dem Heeeeim ab!«
    »Ruhe jetzt! Alle beide! Sofort!«
    Und als er sah, dass Eduardo und Paulo sich anschickten, ihre Stimmgewalt zu verdoppeln, fügte er leise hinzu: »Bitte.«
    Die Jungen tauschten einen Blick.
    »Bitte«, wiederholte der Alte. »Hört auf zu schreien.«
    Das Gefühl aufzubegehren fühlte sich gut an, gerecht, großartig: Sie waren nicht bereit, ohne Weiteres darauf zu verzichten. Also schrien sie wieder los. Aber nicht für lange.
    »Die Nonnen dürfen nicht wissen, dass ich mich nachts aus dem Staub mache«, sagte der Mann flehentlich. Seine Offenheit ließ sie verstummen.
    Er öffnete die Fäuste und breitete die Arme aus, zum Zeichen, dass er sich ergab.
    »Bitte. Sie würden mich rauswerfen.«
    Eduardo hatte noch nie erlebt, dass ein Erwachsener ihn in diesem Tonfall um etwas bat. Der praktisch veranlagte Paulo fragte herausfordernd: »Was bekommen wir, wenn wir aufhören?«
    »Was wollt

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