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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
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sie denn noch …«
    »Ich will nicht drüber reden.«
    »Du hast doch davon angefangen, dass es bei dir zu Hause Präser gibt.«
    »Ich mag das Thema nicht.«
    »In Ordnung. Aber wie … als wir beim Zahnarzt waren, hätten wir noch mehr rausfinden können, wenn der alte Spinner nicht aufgetaucht wär.«
    »Das stimmt.«
    »Ja.«
    Wieder schwiegen sie. Paulo setzte sich mit dem Rücken zu ihm. Eduardo hörte einen schrillen Vogelruf, wusste aber nicht, was für ein Vogel es war. Möglicherweise ein Schwefeltyrann, dachte er. Die Erinnerung an die Frau mit den braunen Oberschenkeln und den vollen, leicht geöffneten Lippen, zwischen denen die strahlend weißen Zähne hervorblitzten, überwältigte ihn, und es brach aus ihm heraus: »Sie war schön. Wunderschön.«
    Sein Gesicht brannte, wahrscheinlich war er rot angelaufen, er schämte sich. Paulo sagte nichts. Vielleicht hatte er ihn nicht gehört.
    Auf einmal sah Eduardo wieder die Schnittwunden in ihrem Gesicht. Und das Blut. Die Stiche. An den Händen, den Armen, dem Hals, dem Unterleib. Und die Brust. Die eine Brust.
    »Warum hat er ihr die Brust abgeschnitten?«
    Von Paulo kam keine Antwort.
    »Das verstehe ich nicht. Ich verstehe, dass man jemanden erstechen kann. Dass man jemanden töten kann. Ich weiß nicht, warum er sie ermordet hat, aber ich kann es verstehen. Aber die Brust abschneiden? Warum? Wozu?«
    Paulo antwortete immer noch nicht. Eduardo sah vor sich hin, er überlegte, ob er aufstehen und eine Runde schwimmen sollte. Aber er rührte sich nicht vom Fleck. Stattdessen streckte er sich wieder aus, die Hände im Nacken verschränkt. Wieder hörte er die Vogelrufe. Wie Schreie. Auch wenn er nicht sicher war: Es mussten Schwefeltyrannen sein. Und sie schienen nichts Gutes zu verheißen.
    »Eduardo.«
    Noch nie hatte er Paulo so leise sprechen hören.
    »Was ist?«
    »Weißt du noch – die Cowboyfilme, die wir gesehen haben?«
    Paulos dunkle Augen starrten ihn an.
    »Was für ein Film?«
    »Egal. Irgendeiner. Einer von denen, bei denen die Indianer die Trecks der Weißen angreifen.«
    »Was ist damit?«
    »Wenn sie die Weißen töten.«
    »Am Ende töten die Weißen alle Indianer.«
    »Ja. Aber wenn die Indianer den Treck umzingeln und die Weißen töten, bevor die Cowboys auftauchen … Was nehmen sie da mit zu ihrem Stamm?«
    »Waffen, Munition. Essen. Alles, was sie auf den Planwagen der Siedler finden.«
    »Nein, Eduardo! Sie töten die Weißen und skalpieren sie!«
    »Ich weiß.«
    »Sie schneiden dem Feind ein Stück seines Körpers ab.«
    »Ja, und?«
    »Es ist eine Trophäe, Eduardo!«
    »Was?«
    »Die Brust, Eduardo!«
    »Die Brust …?«
    »Von der Toten! Die Brust ist die Trophäe!«

4
    Anitas Geburt
    Er war noch nicht bei der untersten Sprosse angekommen, als die beiden Jungen auf ihn zutraten und sagten, sie müssten dringend mit ihm sprechen. Der Magere sah ihn entschuldigend an, der Dunkelhäutige mit den Locken und den Segelohren starrte auf das Seil. Der Alte murrte, verärgert über die Störung.
    »Sie müssen uns helfen«, sagte der Lange.
    Der Mann wischte sich die Hände am Taschentuch ab und steckte es zurück in seine Tasche, ohne Eduardo eines Blickes zu würdigen.
    »Bitte«, fügte dieser hinzu. »Wir brauchen Sie. Wirklich.«
    »Wir haben eine wichtige Spur gefunden. Die wichtigste!«
    »Keine Spur, Paulo. Eine Trophäe.«
    »Das war’s. Der Mörder wollte eine Trophäe.«
    »Wie die Rothäute«, erklärte Eduardo. Er war sich sicher, dass der Verweis auf die Indianer im Wilden Westen alles erklärte, aber er hätte nicht sagen können, wohin der Mann sah. Ob das an der Dunkelheit unter den Bäumen oder am Silberblick des Alten lag, der nun am Fuß der Leiter stand, wusste er nicht.
    Er bemerkte, dass keines der Augen einen bestimmten Punkt fixieren konnte. Beide schienen sich unabhängig voneinander zu bewegen. Wenn das rechte leicht nach oben blickte, glitt das linke ein wenig zur Seite. Manchmal sah es für einen Moment so aus, als blickten beide Augen in die gleiche Richtung. Dann aber glitten sie wieder auseinander.
    Der Alte schien ihnen gar nicht zuzuhören, er war zu sehr damit beschäftigt, das Seilende zu verstecken. Die Leiter hing schon wieder im Laubwerk. Paulo hatte das Gefühl, sich genauer erklären zu müssen.
    »Wenn die Indianer die Weißen besiegen, die auf ihr Stammesgebiet vorgedrungen sind, skalpieren sie sie.«
    »Als Siegeszeichen.«
    »Verstehen Sie?«
    »Bei der Frau vom Zahnarzt war das

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