Der letzte Tag der Unschuld
Santos geheiratet hat. Einen Emanuel Gottschalk mit einer Amélia Lobo. Ari Passos und Áurea Sanchez. Ein Vanderlei Mendes und eine Ana Rita Mendonça. Und ein …«
»Warte!«, bat Eduardo. »Was für einen Namen hast du gerade gesagt?«
»Vanderlei.«
»Vorher! Welchen Namen hast du vorher vorgelesen?«
»Ari Passos.«
»Nein! Einen anderen!«
»Emanuel Gottschalk? Francisco Andrade? Luis Perrone?«
»Andrade! Das ist sein Nachname!«
»Der Name vom Zahnarzt?«
»Ich bin mir ganz sicher! Andrade!«
»Der hier heißt mit vollständigem Namen Francisco Clementino de Andrade Gomes.«
»Doktor Andrade! So heißt der Zahnarzt!«
»Das kann nicht sein«, widersprach Paulo und zeigte Eduardo die Seite. »Sieh doch nur: Dieser Doktor Andrade hat keine Anita geheiratet …«
Sie rannten bis zum Platz, wo der weißhaarige Mann auf einer Bank vor dem Musikpavillon saß und döste. Beide keuchten, sprudelten die Neuigkeiten hervor, verschluckten manche Wörter, voller Stolz, von ihren Entdeckungen berichten zu können, und voller Angst, den Faden zu verlieren.
»Sie hatten Recht«, begann Paulo, der das zusammengerollte Seil über der Schulter trug.
»Sie hatte keinen Vater.«
»Und keine Mutter.«
»Es steht da schwarz auf weiß: Eltern unbekannt.«
»Und der Eintrag war von den Nonnen im Waisenhaus.«
»Aus dem Waisenhaus für Mädchen. Es gibt nämlich auch eines für Jungen hier in der Stadt. Und beide werden von Nonnen geleitet. Aber ich glaube, sie sind von einem anderen Orden als die Nonnen in Ihrem Altersheim. Die Kleidung ist anders. Die Farbe ihrer Kutten …«
»Sie hieß gar nicht Anita!«, unterbrach ihn Paulo.
»Er meint, die Frau, die Doktor Andrade …«
»Der Zahnarzt heißt nämlich Doktor Andrade. Francisco Clementino de Andrade Gomes.«
»… geheiratet hat.«
»Sie hieß Aparecida dos Santos!«
»Maria Aparecida dos Santos!«
»Aparecida wurde 1937 von den Nonnen im Waisenhaus als Kind unbekannter Eltern gemeldet«, fügte Eduardo hinzu.
»Aparecida hat am 6. Juni 1952 Francisco Clementino de Andrade Gomes geheiratet. Maria Aparecida dos Santos. Doktor Andrade.«
»Mit fünfzehn.«
Der Alte zog eine zerknitterte, halb gerauchte Zigarette aus seiner Jacketttasche und steckte sie sich in den Mund. Aus der anderen Tasche fischte er eine Streichholzschachtel hervor. Er zündete die Zigarette an und tat einen Zug. Dann blies er den Rauch in die Luft. Die Jungen würdigte er keines Blickes.
»Fünfzehn«, wiederholte Eduardo. »So alt war Aparecida, als sie den Zahnarzt geheiratet hat. Genau, wie man es Ihnen erzählt hat.«
»Der Zahnarzt hat gar keine Anita geheiratet.«
»Er hat Aparecida geheiratet.«
»Es gibt gar keine Anita.«
»Besser gesagt: Es gibt sie doch …«
»Weil Aparecida nämlich so genannt wurde.«
»Sie wurde Anita genannt.«
»Dona Anita.«
»Die Frau von Doktor Andrade.«
Eduardo wurde das Schweigen des Alten allmählich unheimlich.
»Haben Sie verstanden?«
»Haben Sie gehört?«, fragte Paulo mit erhobener Stimme.
»Hören Sie überhaupt, was wir Ihnen erzählen?«
»Die ermordete Frau hieß ganz anders.«
»Aparecida!«, schrie Eduardo. »Aparecida!«
Ein weiterer Zug an der Zigarette. Dann langsam ausgestoßener Rauch. Ein leerer Blick. Eduardo riss der Geduldsfaden.
»Ich habe mir fast das Bein gebrochen, als wir uns am Seil runtergelassen haben. Ich hätte mir das Bein brechen können! Beide Beine! Ich könnte jetzt ein Krüppel sein!«
»Und ich?« Paulo, der fürchtete, bei den Missgeschicken ins Hintertreffen zu geraten, überlegte. »Ich musste mich mit Ratten rumschlagen, wissen Sie? Mit großen Ratten! Riesigen Biestern!«
Er verstummte, als er den Alten vor sich hin murmeln hörte. Eduardo hatte es auch gehört.
»1952 …«, hörten sie ihn leise sagen. Er sah sie nicht an. »Da muss der Zahnarzt irgendwo in den Vierzigern gewesen sein, Ende vierzig …«
Die Zigarettenglut näherte sich bedrohlich seinen Fingern. Eduardo wollte den Alten gerade darauf hinweisen, da hörte er ihn ein wenig lauter sagen: »Anita … oder Aparecida … war fünfzehn …«
Er drückte die Kippe an der Schuhsohle aus.
»Wie alt seid ihr?«
»Zwölf«, antwortete Paulo prompt.
»Ich werde bald dreizehn«, brüstete sich Eduardo. »In zehn Monaten.«
»Ich schon vorher. Im Januar.«
»Das ist nur ein Monat früher!«
»Achtundvierzig Tage früher!«
Der Alte sah sie an. Oder sah er nur in ihre Richtung? Er sagte: »Das ergibt
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