Der letzte Tag der Unschuld
ihr?«
»Hilfe«, sagte Eduardo hastig.
»Bei der Aufklärung des Verbrechens«, fügte Paulo hinzu.
»Um zu beweisen, dass der Zahnarzt nicht der Mörder ist.«
»Weil er war’s nämlich nicht.«
»Weil er es nämlich nicht war, Paulo.«
»Weil er es nicht war.«
»Der Zahnarzt. Er war’s nicht.«
Der Alte bedeutete ihnen zu schweigen. Er sah sich nach allen Seiten um.
»Die dürfen mich hier nicht sehen. Gehen wir weg von der Straße.«
Sie gingen zur Mauer hinüber.
»Ihr seid doch noch Kinder.«
»Sind wir nicht«, protestierte Paulo.
»Wir werden bald dreizehn.«
»Und ich bin pensionierter Lehrer, kein Detektiv.«
»Aber Sie waren beim Zahnarzt, um Nachforschungen anzustellen.«
»Wir haben Sie gesehen.«
»Ich will nur ab und zu mal raus aus dem Altersheim. In Ruhe was trinken, ein bisschen reden. Ich bin nicht müde. Wir alten Leute brauchen wenig Schlaf.«
»Paulo und ich haben die Leiche gefunden. Am See.«
»Sie war ganz voller Blut! Und Dreck! Und überall aufgeschlitzt!«
»Es kann nicht der Zahnarzt gewesen sein!«
»Und ihre Brust war skalpiert!«
»Was war skalpiert?«
»Sehen Sie denn keine Cowboyfilme?«
»Ich sehe mir niemals Hollywoodfilme an.« Er sprach Hollywood »rroliúdi« aus, wie es die Leute im Nordosten taten. »Sie sind manichäistisch.«
»Was heißt manichäistisch?«
»Ich schlag’s später im Wörterbuch nach, Paulo. Wir müssen beweisen, dass der Zahnarzt unschuldig ist.«
»Der Ehemann hat den Mord gestanden, Jungs.«
»Aber er kann es gar nicht getan haben! Er ist alt! Sie können sich gar nicht vorstellen, wie alt er ist!«
»Der Schein trügt, das werdet ihr früher oder später auch noch lernen. Nichts in diesem Land ist, was es scheint. Und diese Stadt ist ein Mikrokosmos Brasiliens.«
Paulo notierte sich im Geiste Mikrokosmos. Wieder ein Wort, das er in Eduardos Wörterbuch würde nachschlagen müssen.
»Alte Leute sind zu den schrecklichsten Gräueltaten fähig«, fuhr der Mann fort.
Noch etwas, was er morgen nachsehen musste: Gräueltaten.
»Habt ihr schon mal von Getúlio Vargas gehört? Oder von Josef Stalin?«
»Von Getúlio ja.«
»Vargas hat die Arbeitergesetze geschaffen.«
»Getúlios Schergen haben mir die Fingernägel ausgerissen. Einen nach dem anderen. Kaltblütig. Sie haben mich gefoltert und meine Freunde getötet. Derselbe Vargas, von dessen Heldentaten sie euch in der Schule erzählen. Der Märtyrer der Republik. Wir haben Getúlio an die Macht verholfen. Wir haben an ihn geglaubt. Der Vater der Armen. Vargas hat uns verraten. Wie Stalin.«
Er sprach weiter, erzählte von Toten, Verfolgung und Massakern in der Sowjetunion. Eduardos Neugier war geweckt. Er hatte sich schon immer für Geschichte interessiert. Paulo hingegen, dem die Abschweifung in diesem Augenblick sinnlos erschien, wurde ungehalten. Er unterbrach den Mann: »Werden Sie uns nun helfen oder nicht?«
»Das ist Nötigung.«
»Was?«
»Ich werde erpresst. Entweder ich mache bei euch mit, oder ihr verratet mich, so ist es doch, oder?«
»Aber Sie haben doch selbst angefangen nachzuforschen«, wandte Eduardo ein.
»Vielleicht.«
»Wir wissen, dass wir keine kleinen Kinder mehr sind. Paulo nicht und ich auch nicht.«
»Nein, sind wir nicht.«
»Aber ihr Erwachsenen haltet uns immer noch für Babys.«
»Genau.«
»Gerade eben haben Sie uns noch Kinder genannt.«
»Eben.«
»Und genau deshalb, weil ihr glaubt, dass Paulo und ich bloß kleine Kinder sind, können wir eine Menge Sachen über den Mord an der Frau vom Zahnarzt herausfinden, ohne dass es jemand bemerkt.«
»Weil niemand uns beachtet.«
»Genau wie ich gesagt habe: Weil wir so jung sind, fallen wir nicht auf.«
»Aber es gibt andere Sachen, die wir nicht machen können, die wir alleine nicht hinkriegen, verstehen Sie?«
Der weißhaarige Mann wartete auf weitere Argumente. Die Jungen warteten auf eine Antwort. Schließlich war es der Alte, der das Schweigen brach: »Und deshalb …?«
»Na ja … also … Weil Sie doch älter sind und mehr Erfahrung haben … es gibt Dinge, die Sie können und wir nicht.«
»Wie zum Beispiel?«
»Ach, das weiß ich jetzt noch nicht. Das werden wir sehen, wenn es so weit ist.«
»Einer für alle und alle für einen?«, schlug Paulo vor.
»Wenn wir alle zusammenarbeiten, Sie und wir, gemeinsam, wir drei, Sie, Paulo und ich, können wir etwas herausfinden, was …«
»Was genau wollt ihr eigentlich erreichen?«, unterbrach ihn der Alte.
Das
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