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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
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ist? Da lebt er in diesem großen Haus, das er bestimmt von irgendeinem reichen Urgroßvater geerbt hat und das mit all den Sachen vollsteht, die wir dort gesehen haben, und hat kein Dienstmädchen? Lässt seine eigene Frau kochen, waschen, bügeln …«
    »Ich glaube nicht, dass er sie waschen gelassen hat.«
    »Hat waschen lassen, Paulo.«
    »Ich glaube nicht, dass er sie hat waschen lassen.«
    »Na ja, dann hatte sie eben eine Waschfrau, die regelmäßig für sie gewaschen und gebügelt hat. Aber sie musste putzen.«
    »Alle Frauen putzen.«
    »Alle Frauen haben Putzfrauen, nur die ganz Armen nicht. Meine Mutter hat eine, die kommt zweimal pro Woche.«
    »Und kriegt sicher alles mit, was bei euch zu Hause so passiert.«
    Eduardo blieb stehen. Er hatte das Gefühl, etwas Wichtiges entdeckt zu haben. Paulo ging ihm voraus in den Umkleideraum, tauchte ein in das Gewühl von zwei Dutzend verschwitzten, aufgeregten Jungen, die gerade vom Fußballspielen kamen und aus voller Kehle Meinungen und Beschimpfungen austauschten. Niemand beachtete den dunkelhäutigen Jungen mit den zerknitterten Kleidern oder den hageren, bleichen Jungen, der kurz nach ihm hereinkam.
    »Was haben sie wohl getrieben, dass es nicht einmal ein Dienstmädchen mitbekommen durfte?«, spann Eduardo den Faden fort.
    »Macumba. Zauberei mit den Zähnen, die er gezogen hatte.«
    »Wenn du reiche Liebhaber hättest …«, fuhr Eduardo fort, ohne auf Paulos These einzugehen, »würdest du dann nichts von ihnen verlangen?«
    »Geld?«
    »Kein Geld. Geschenke.«
    »Was denn für Geschenke?«
    »Der Alte hat was von Schmuck gesagt. Reiche Männer schenken ihren Geliebten Schmuck.«
    »Sie hatte aber keinen. Darüber haben wir doch gestern geredet, weißt du nicht mehr?«
    Eine weitere Gruppe Jungen drängte sich in den Umkleideraum: ein Volleyballteam. Einige lachten, andere schubsten sich, alle schrien, glücklich über einen soeben errungenen Sieg. Ein großer, kräftiger Kerl versetzte Eduardo, der sich gerade den Turnschuh zuband, einen Stoß, dass er beinahe hingefallen wäre. Er bemerkte es gar nicht.
    Eduardo zog die Schulsportuniform an: blaue Hosen und Leinenschuhe, weißes Hemd und weiße Strümpfe. Die abgelegte Kleidung verstaute er in einem der gelben Plastikspinde, die die Wand säumten. Er schloss den Spind ab und band sich das Gummiband mit dem Schlüssel ums Handgelenk. Paulo, der genauso gekleidet war wie er, stopfte seine Sachen in den Schrank darunter. Er machte sich nicht die Mühe abzuschließen. Als er nach draußen gehen wollte, packte Eduardo ihn am Arm.
    »Du hast gesagt, du bist arm …«
    »Bin ich auch. Das weißt du doch.«
    »Aber du wärst gerne reich …«
    »Du etwa nicht? Das wollen doch alle.«
    »Eben! Siehst du? Deshalb verstehen wir Dona Anita nicht.«
    »Aparecida.«
    »Dona Aparecida. Jeder will reich sein, aber sie … Sie war nur mit reichen Leuten zusammen, hat sogar ihren Namen geändert, hat ihren Arme-Leute-Namen gegen einen Reiche-Leute-Namen eingetauscht … Sie wollte doch ganz bestimmt so sein wie sie, glaubst du nicht? Sie wollte Sachen für sich besitzen, schöne Sachen, wie sie alle Frauen haben wollen. Wenn sie wirklich die Geliebte des Textilfabrikanten war und des Bürgermeisters und …«
    »Von den Reichen.«
    »Dann wollte sie doch bestimmt … Sachen haben, oder? Sie wollte …«
    Wieder gelang es ihm nicht, seinen Gedanken zu Ende zu bringen. Wieder einmal stand er vor der unüberwindlichen Mauer der Welt der Erwachsenen, hinter der Regeln galten, die er einfach nicht verstand. Schweigend gingen sie weiter.
    »Es gibt Leute, die nichts wollen«, sagte Paulo. »Mein Vater ist so einer. Er hat keine Ziele, keine Wünsche, gar nichts.«
    »Aber dein Vater ist auch schon alt, er ist vierzig.«
    »Sechsundvierzig.«
    »Mit sechsundvierzig hat es keinen Sinn mehr, sich was zu wünschen. In dem Alter kann man nichts mehr erreichen. Aber die Frau des Zahnarztes war vierundzwanzig. Sie war noch nicht alt. Warum also …?«
    »Hast du schon gemerkt, dass wir nur Fragen, Fragen und noch mehr Fragen haben?«
    Sie waren wieder auf den Gang hinausgetreten, ununterscheidbar in der Menge der anderen Jungen in Sportuniform. An der Turnhalle angekommen, mischten sie sich unter ihre Klassenkameraden. Die Mädchen stellten sich ordentlich in Reih und Glied auf, in Zweier-, Dreier- und Vierergrüppchen. Sie kicherten, tuschelten miteinander, beobachteten aus den Augenwinkeln die Jungen, die sich am anderen

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