Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
Vom Netzwerk:
sie. Noch ein Schlückchen Likör?«
    Sie griff nach dem Glas, ohne seine Antwort abzuwarten, ging zum Tablett, schenkte nach und reichte es ihm wieder. Ihr eigenes Glas hatte sie noch nicht angerührt.
    »Als ihr Beichtvater haben Sie sicher von ihren … Bei der Beichte hat sie Ihnen doch bestimmt von ihren … ähem … wie soll ich sagen … von den … körperlichen Aspekten ihres Lebens berichtet, um es mal so zu nennen. Von den fleischlichen Dingen. Ich verurteile sie nicht, Pater Basílio. Nicht, dass Sie das denken. Nein, keineswegs. Das steht mir nicht zu. Ich würde das niemals tun. Nein. Ganz bestimmt nicht. Ich habe sie ja nie zu Gesicht bekommen.«
    »Aber Sie sagten doch …«, setzte er an, nachdem er den Likör wieder in einem Zug hinuntergegossen hatte.
    »Dass ich vieles über sie weiß. Ja. Mal ganz abgesehen von dem ganzen Gerede, das so ein Mord unweigerlich nach sich zieht. Ja. Ich glaube schon. Noch einen Likör?«
    Wieder schenkte sie ihm ein, ohne seine Zustimmung abzuwarten. Sie selbst hatte noch immer nichts getrunken.
    »Haben Sie schon einmal mit Waisenkindern gearbeitet?«
    »Mit Waisenkindern? Ich wüsste wirklich nicht …«
    »Die Mädchen im Waisenhaus lernen nähen, sticken, stopfen, waschen, bügeln, putzen, kochen … Natürlich gehen sie auch zur Schule. Aber vor allem sollen die Mädchen im Waisenhaus lernen, sich nützlich zu machen. Nützlich. Das ist das Wort, das man im Waisenhaus am häufigsten zu hören bekommt. Nützlich. Eine nützliche Erziehung. Die die Mädchen zu nützlichen Frauen machen soll. Sodass sie da draußen in der Welt zurechtkommen, wenn sie uns verlassen müssen.«
    Er setzte das Glas an, behielt den Likör einen Moment lang auf der Zunge, bevor er ihn hinunterschluckte. Jetzt erschien er ihm schon weniger widerwärtig.
    »Die Welt ist ein beängstigender Ort für ein Mädchen, das hier bei uns aufwächst, Pater Basílio. Ich nehme an, Sie hatten tatsächlich noch nie mit Waisenkindern zu tun, oder doch?«
    Weil er nicht wusste, was er antworten sollte, hielt er ihr das leere Glas hin. Sie nahm es, rührte sich aber nicht.
    »Für jemanden, der in einem Waisenhaus aufwächst, ist die Welt da draußen …«
    Sie drehte sein Glas prüfend zwischen den Händen, wie um es zu taxieren. Dann stellte sie es auf den Tisch neben dem Sessel, holte die Likörflasche und schenkte nach.
    »Einem Mädchen aus dem Waisenhaus, Pater Basílio, kommt es vor, als wären die Menschen da draußen reich. Alle Menschen. Gebildet. Gut gekleidet. Alle. Selbstsicher. Sicher, wohin sie gehören. Alle. Besser auf das Leben vorbereitet. Vornehmer. Mehr wert. Hübscher, gesünder, glücklicher. Kurzum, es scheint, als wären sie …«
    Die Nonne hielt ihm das Glas hin.
    »… besser.«
    Sie lächelte freudlos.
    »Angesichts der Welt da draußen haben die Mädchen nur zwei Möglichkeiten. Entweder sie gehen weg von uns. Hinaus in diese Welt, die sie verzaubert und erschreckt. An der Hand eines dieser Menschen, die besser sind als sie. Der sie beschützt. Der sie aufnimmt. Der für sie sorgt. Der sie verwandelt. Der ihnen diese Welt voller Freuden und Möglichkeiten eröffnet. Die andere …«
    Sie zögerte.
    »Die andere …?«
    »Die andere ist, nie von hier wegzugehen.«
    Sie schwieg, stand reglos vor ihm. Unbehagliche Stille füllte den Raum.
    »Und Sie, Schwester …«
    »Ich bin in einem Waisenhaus in der Nähe von Belo Horizonte aufgewachsen.«
    Sie hob ihr Glas an die Lippen und nippte.
    »Ich schäme mich nicht dafür. Ganz im Gegenteil.«
    »Vorhin sagten Sie, dass Sie …«
    Sie unterbrach ihn.
    »Eine seltsame Stadt ist das. Leben Sie schon lange hier?«
    »Erst seit kurzem. Im Altersheim von São Simão bin ich seit …« Er brach ab, als er merkte, dass er sich verplappert hatte.
    »Ah, Sie kümmern sich um alte Menschen. Gehören sie zu Ihrer Gemeinde?«
    »Gewissermaßen«, antwortete er und rutschte in seinem Sessel hin und her. »Aber Sie sprachen gerade über …«
    »Diese Stadt. Ich weiß nicht, ob Sie verstehen, was ich meine. Die Menschen hier sind … nicht alle. Es ist nur ein Eindruck. Den ich hatte. Habe. Nicht von allen Leuten. Nein. Die Leute hier sind ein wenig … Einige von ihnen. Ein wenig … Wissen Sie, in dieser Gegend … Bevor die Textilfabrik errichtet wurde. Vorher. Als diese Gegend eines der bedeutendsten Kaffeeanbaugebiete Brasiliens war. Sie wissen ja, dass es hier viele große Kaffeeplantagen gab. Im letzten Jahrhundert.

Weitere Kostenlose Bücher