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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
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Überall hier in der Gegend. Während des Ersten und des Zweiten Kaiserreichs. Die Kaffeebarone. Gewaltige Vermögen. Riesige Ländereien. Mit vielen … Sklaven. Sie waren auf sie angewiesen. Auf die Sklaven. Auf die Arbeitskraft der Sklaven. Die ganze Gegend. Sie kauften sie … Wie nannten sie es doch? In großen Stückzahlen. So nannten die Plantagenbesitzer die Männer und Frauen, die in Afrika gekauft und hierher gebracht wurden. So wie meine Großeltern. Oder meine Urgroßeltern. Stücke. Und nach dem Ende der Sklaverei haben diese Stücke und ihre Besitzer …«
    Worauf wollte sie hinaus? Warum redete sie über dieses Thema? Und warum sah sie ihn dabei nicht an? Warum verhaspelte sie sich?
    »Wer Stücke kauft«, sagte sie und nahm das Glas in die linke Hand, »dem ist wahrscheinlich nicht besonders wohl zumute, wenn er mit ihnen zusammenleben muss. Von Gleich zu Gleich. Nicht hier. In dieser Stadt. Ich glaube, die Leute hier finden das nicht normal. Sie sind es nicht gewöhnt. Das war früher nicht so. Sie mussten nie zuvor … Ein Stück, etwas, was einem gehört, ist kein Mensch. Ein Stück ist nicht das Gleiche wie ein Mensch. Und es wird auch nie als einer betrachtet werden. Denken Sie nicht?«
    Sie nahm das Glas wieder in die rechte Hand. Stand stocksteif da, reglos. Nur ihre Schultern schienen sich ein wenig zu heben.
    »Sie sind dunkelhäutig, Pater Basílio. Das ist akzeptabel. Ohne dass ich Ihnen zu nahe treten wollte.«
    »Ich bin nicht …«
    »Dunkelhäutigkeit ist akzeptabel. Es gibt dunkelhäutige Portugiesen, die Nachkommen von Mauren, die ja ebenfalls Afrikaner sind, wie Sie wissen. Aber ihre Nachkommen wurden in Europa geboren. Sie vermischten sich mit den Römern, den Spaniern, den Goten, den Westgoten, was weiß ich. Bei den Stücken ist es anders. Die Leute hier sind es nicht gewohnt, mit Menschen meiner Hautfarbe zusammenzuleben. Mit Menschen meiner Hautfarbe in einer Position wie der meinen. Sie zum Beispiel. Nein, leugnen Sie es nicht. Ihnen ist in meiner Gegenwart sichtlich unwohl. Ich verstehe das. Wie Sie gezögert haben, aus meiner Hand das Glas entgegenzunehmen. Wie Sie im Sessel hin und herrücken. Wie Sie ständig an Ihrem Kragen zupfen. Wie Sie schwitzen.«
    »Das hat nichts damit zu tun, Schwester …«
    »Diese Reaktion erlebe ich immer wieder. Keine Angst, ich nehme das nicht persönlich. Es gibt andere Reaktionen, die wesentlich … deutlicher sind. Aggressiver. Feindseliger. Von den sogenannten gebildeten Leuten, verstehen Sie, was ich meine? Ich habe den Eindruck, selbst der Bischof … Stehen Sie sich gut mit dem Bischof?«
    »Dem Bischof? Er … Wir … Unser Verhältnis ist … wie soll ich sagen … Der Bischof und ich … haben so wenig wie möglich miteinander zu tun.«
    »Der Herr Bischof stammt aus einer alteingesessenen Familie dieser Gegend. Er ist sehr klug. Sehr feinsinnig. Er hat einen unbarmherzigen Humor. Hat er noch nie eine Bemerkung über Ihren Dialekt fallen lassen?«
    »Meinen Dialekt?«
    »Ich nehme an, Sie kommen aus dem Nordosten.«
    »Ich bin in Sergipe geboren. Aber ich bin schon früh nach Pernambuco gezogen. Ich habe nie gemerkt, dass mein Dialekt …«
    »Ich bin nie aus Minas Gerais herausgekommen, bis ich hierherkam. Ich weiß nicht, ob im Nordosten die Rassenmischung besser angesehen ist als hier. Hier … Denken Sie nur, selbst einige der Waisenmädchen haben sich mir gegenüber anfangs ein wenig feindselig verhalten. Sogar solche, die die gleiche Hautfarbe haben wie ich. Ich bin die erste Schwarze, die sie sehen, die nicht putzt oder Essen kocht. Das verwirrt sie. Wenn dieses Mädchen, diese Dame, Aparecida oder Anita, weiß gewesen wäre, hätte sie es sicher leichter gehabt. Ihr Glas ist leer.«
    Sie hob die Likörflasche und schenkte nach.
    »Aber war denn Anita nicht …?«
    »Weiß? Nein. Im Register des Waisenhauses ist sie als ›farbig‹ verzeichnet«, erklärte die Nonne, ging zu einem der metallenen Aktenschränke, öffnete ihn und nahm eine Aktenmappe voller Zettel und Dokumente heraus.
    »Farbig?«
    »Farbig. Ein Euphemismus für ein Mischlingskind, wie Sie wissen. Hier ist die Akte. Es ist die erste, die über das Mädchen angelegt wurde, als sie als Baby hierhergebracht wurde. Sehen Sie hier: Sie hatte noch nicht einmal einen Namen.«
    »Ich habe meine Brille nicht dabei. Was steht hier in dieser Zeile?«
    »Augenfarbe. Grün.«
    »Sie war …«
    »Farbig mit grünen Augen.«
    »Eine hellhäutige Mulattin.

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