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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
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Antwort von ihnen erwartete. In der Welt von Erniedrigung und Belohnung, von der er sprach, fanden sich nur die Erwachsenen zurecht. Doch dann fiel Paulo etwas ein, und er fragte den weißhaarigen Mann: »Was, wenn sie gar nichts besitzen wollte?«

5
    Die Menschen da draußen
    Er sah die Umrisse der jungen Brüste, von denen einige gerade erst zu knospen begannen und die, die Büstenhalter füllten. Ein Stück Rücken. Den Umriss von Armen. Nackte Füße, die in weiße Strümpfe und dann in Segeltuchschuhe glitten. Die marineblauen Röcke der Schuluniform wurden von den Hüften gestreift und weiße Gymnastik-Hosenröcke von den Füßen bis zur Taille hochgezogen. Zarte Schenkel, die Haut rosig oder braun, manche sommersprossig.
    Aber es war, als sähe er nichts. In diesem Augenblick spürte er noch nicht einmal den Kitzel des Verbotenen. Warum nicht? War das nicht ein Anblick, der den anderen Jungen versagt war? Ein Vergnügen, das Eduardo und er allein teilten, seit sie das Geheimversteck entdeckt hatten? Waren sie nicht im verbotenen Turm? War es ihnen nicht wieder einmal gelungen, sich unentdeckt auf den Dachboden der Schule zu schleichen, wo sie nun zwischen Mäusekot, Staub, zerbrochenen Dachschindeln, Stromkabeln und Bauschutt hockten? Unter ihnen lag der Umkleideraum der Mädchen. Und sie sahen ihnen durch das Lüftungsgitter beim Umziehen zu. Und doch. Und doch. Er war nicht wirklich da. Er sah Mädchen. Jugendliche. Aber er dachte dabei an eine erwachsene Frau. An sie. Anita. Aparecida.
    Paulo wandte sich zu seinem Freund um, der still hinunterstarrte. Er wollte sagen, was ihm durch den Kopf ging, aber er wusste nicht, was es eigentlich war. Also schwieg er. Bis er hörte, dass Eduardo ihn rief. Er drehte sich um. Aber Eduardo sah weiterhin in den Umkleideraum hinunter, sodass er glaubte, er habe sich geirrt. Und wieder kam ihm Anita in den Sinn. Aparecida. Dann hörte er wieder Eduardos Stimme. Er fragte etwas, was Paulo nicht verstand.
    »Wenn ich was wäre?«
    »Arm.«
    »Aber ich bin doch arm.«
    »Nein. Paulo! Richtig arm, meine ich.« Eduardo sprach, ohne das Geschehen unter ihnen aus den Augen zu lassen. »Kein Dach über dem Kopf. Keinen Vater, keine Mutter, kein Essen, kein …«
    »Aber eines Tages werde ich reich sein. Ich werde studieren, an der Uni, und dann werde ich ein berühmter Wissenschaftler. Das hab ich dir ja schon gesagt.«
    »Du hast gesagt, du willst Schriftsteller werden.«
    »Und Wissenschaftler.«
    »Aber wenn du arm wärst, wenn du ein armes Mädchen wärst …«
    »Schwarz oder weiß?«
    »Was macht das für einen Unterschied? Arm ist arm. Armut ist für alle gleich.«
    »Oh nein, Eduardo! Für ein schwarzes Mädchen ist es viel schlimmer. Ein weißes Mädchen kann adoptiert werden, in einer Familie leben, studieren und vieles andere mehr. Ein schwarzes Mädchen stirbt im Waisenhaus.«
    »Aber Anita war weiß, und keiner hat sie adoptiert.«
    »Schau mal da unten. Siehst du da irgendwo ein schwarzes Mädchen?«
    »Nein, aber …«
    »Wie viele schwarze Freunde hast du?«
    »Du hast doch auch keinen!«
    »Mein Vater hat keinen einzigen schwarzen Freund. Hat dein Vater schwarze Freunde? Hat deine Mutter schwarze Kundinnen? Keiner der Freunde meines Bruders ist schwarz. In unserer Klasse gibt es nur ein einziges schwarzes Mädchen.«
    »Bist du etwa Rassist?«
    »Warum sagst du das?«
    »So, wie du redest …«
    Die letzten Schülerinnen verließen den Umkleideraum. Eduardo und Paulo stahlen sich aus ihrem Versteck. Lange hielt das Schweigen zwischen ihnen nicht an.
    »Aber stimmt es etwa nicht, Eduardo? Die Lehrer sind weiß. Der Schulleiter ist weiß. Der Bürgermeister ist weiß, der Abgeordnete ist weiß, der Pfarrer ist weiß …«
    Sie kamen im Flur heraus, der zur Turnhalle führte. Von dort hörten sie Geschrei und die Anweisungen des Turnlehrers. Auf dem Weg zum Umkleideraum der Jungen nahm Paulo schon die Krawatte ab und zog das Hemd aus der Hose, während er mit der anderen Hand den Stapel Hefte und Bücher balancierte.
    »Aber wenn du die Ehefrau eines reichen Mannes wärst, hättest du dann nicht gerne Schmuck und …«, setzte Eduardo an.
    »Der Zahnarzt ist nicht reich.«
    »Arm ist er jedenfalls nicht. Er hat dieses Haus, antike Möbel, antike Heiligenfiguren, Bilder, die Praxis …«
    »Aber er hat keine Hausangestellte.«
    »Ist das nicht seltsam? Ein Mann in seiner Stellung, ein Zahnarzt, der mit den anderen wichtigen Leuten in dieser Stadt befreundet

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