Der letzte Tag der Unschuld
Ende der Halle versammelten. Gleich würde der Hilfslehrer kommen und sie der Größe nach in Gruppen einteilen. Das war immer ein ärgerlicher Moment für Paulo, der dann unweigerlich bei den Jüngeren landete.
»Wir könnten an den Tatort zurückkehren und …«, setzte Eduardo an. »Und …«
Mehr fiel ihm nicht ein.
»Noch mal zum See?«
»Dann zum Haus des Zahnarztes?«
»Wieso dorthin?«
»Zum Waisenhaus?«
»Wozu?«
»Um eine Spur zu finden.«
»Was für eine Spur?«
»Sie ist dort aufgewachsen.«
»Da gibt’s keine Spur. Dort war sie doch als Kind. Als sie noch Aparecida hieß. Die Blonde mit den reichen Freunden kam erst später auf die Welt. Außerdem würden sie uns dort gar nicht reinlassen.«
»Vielleicht könnten wir zurück zum Stadtarchiv. Wer weiß, ob es da nicht irgendwelche Geheimdokumente über den Zahnarzt gibt?«
»Wenn sie geheim sind, woher sollen wir dann wissen, ob sie existieren?«
»Wir könnten nach ihnen suchen.«
»In welchem Teil vom Archiv?«
»Im … im …«
»Im was?«
Im Augenblick kam kein Argument gegen die Übellaunigkeit an, mit der Paulo die jüngeren Schüler beobachtete, die sich gerade, wie brave Schafe, in einer Reihe aufstellten.
Am Ende des Korridors war ein untersetzter Erwachsener im Trainingsanzug aufgetaucht, der auf sie zukam. Sofort verstummten alle.
»Und wenn unser Alter …«, hob Eduardo an, als er den Hilfslehrer näher kommen sah. Er musste seine Idee schnell loswerden, bevor sie getrennt wurden. »Warst du schon bei der Erstkommunion?«
Paulo verstand nicht, worauf er hinauswollte.
»Erstkommunion, Katechismusunterricht, Relistunden! Kennst du Pater Basílio, den von der kleinen Kirche gleich bei dir um die Ecke?«
In einer Reihe mit den Kleineren aufgestellt, musste Paulo den Blick nach vorn richten, wie die Schüler vor und hinter ihm. Er war sich nicht sicher, aber er glaubte zu hören, wie Eduardo noch leise etwas über diese sinnlose Sache sagte, über den Katechismusunterricht.
Die Nonne nahm zwei Likörgläser, die neben der Flasche standen, füllte sie mit der goldfarbenen öligen Flüssigkeit und trug sie zu dem Sessel hinüber, in dem der weißhaarige Mann saß.
»Rosenlikör«, sagte sie und hielt ihm ein Glas hin. »Von unseren Schwestern hier im Waisenhaus selbst gemacht.«
Er zögerte. Tranken Pfarrer? Durfte er annehmen?
»Der schmeckt Ihnen bestimmt«, versicherte sie, unschlüssig, wohin sein Silberblick gerichtet war. »Er ist sehr mild.«
Die Soutane war ihm lästig. Der grobe Stoff kratzte, und er schwitzte. Das Zimmer der Leiterin des Waisenhauses Santa Rita de Cássia war fensterlos und spärlich möbliert. Vergilbte Farbe blätterte von den Wänden. Die vier metallenen Büroschränke waren zerbeult und voller Rostflecken.
»Wir sind auf Spenden angewiesen«, sagte die Nonne, als sie sah, wie sein irrender Blick über die Möbel glitt. »Und die sind in letzter Zeit nicht gerade üppig ausgefallen, wie Sie sehen.«
»Ich wollte nicht …«
»Seit dem Bau von Brasília ist alles so teuer geworden. Die Inflation der letzten Jahre hat uns sehr zu schaffen gemacht. Sie macht allen zu schaffen. Und an der Wohltätigkeit wird in Notzeiten zuerst gespart.«
Sie schob das Glas näher an ihn heran.
»Er schmeckt wirklich ausgezeichnet, Hochwürden …«
»Basílio!«, nannte er hastig den Namen des Pfarrers, dem Paulo und Eduardo die Soutane gestohlen hatten.
Er nahm das Glas und trank einen Schluck.
»Pater Basílio da Gama. Wie gesagt, ich war ihr Beichtvater. Dona Anitas Beichtvater.«
Ihre dunkle Haut strahlte die Frische und Gesundheit der Jugend aus, ein Eindruck, der durch die gestärkte weiße Haube, die ihr Gesicht umrahmte, noch bekräftigt wurde. Sie setzte sich nicht.
»Ich habe die Dame nie kennen gelernt. Anita. Oder Aparecida. Bei uns ist sie als Aparecida registriert. Wie Sie vielleicht wissen. Wussten Sie das? Vermutlich. Ich habe sie nie gesehen. Ich kenne nicht viele Leute in der Stadt. Noch nicht. Ich leite das Waisenhaus erst seit fünf Monaten. Ich komme aus Andrelândia. Kennen Sie das? Das liegt etwa dreihundert Kilometer von hier in Minas Gerais. Ich habe hier bisher kaum jemanden kennen gelernt. Ich gehe wenig aus. Wir gehen wenig aus. Wir verrichten unsere Arbeit innerhalb dieser Mauern.«
»Also wissen Sie nichts über sie?«
Der Likör war widerlich süß. Er kippte ihn hinunter: So war es leichter.
»Ganz im Gegenteil. Ich glaube, ich weiß eine ganze Menge über
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