Der letzte Tag der Unschuld
offenstehen! Das wäre vor nicht allzu langer Zeit noch unvorstellbar gewesen. Unmöglich ohne eine Schule wie diese, die für alle Kinder da ist. Für die Kinder von Schlachtern, Eisenbahnern, Schneiderinnen, Arbeitern, Friseuren, Dienstmädchen, für Kinder … aller sozialen Schichten, nicht wahr?«
Er stand auf, zog seinen Kittel gerade und ging ans Fenster, wo er stocksteif stehen blieb, den Jungen den Rücken zugewandt.
»Es wäre doch ein Jammer, wenn all dies verloren ginge.«
Er machte eine lange Pause, bevor er den nächsten Satz fallen ließ.
»Zu schade, wenn ich euch der Schule verweisen müsste.«
»Verweisen …!«
»Der Schule verweisen?«, wiederholte die Kinderstimme, in die sich schon tiefere Töne mischten.
»Wie verweisen? Warum verweisen?«
Der Direktor ließ einige Sekunden verstreichen, bevor er in ernstem Ton wiederholte: »Zu schade.«
Er wartete, bis die beiden Jungen aufhörten zu tuscheln.
»Ihr wart gestern auf der Fazenda von Doutor Geraldo Bastos, nicht wahr?«
Keine Antwort. Vielleicht hatten sie ihn nicht verstanden.
»Auf der Fazenda, die unserem Gründer gehörte. Ihr habt der Fazenda, die früher im Besitz des Senators Marques Torres war, unerlaubterweise einen Besuch abgestattet.«
»Aber …«
»Wir haben nicht geschwänzt, um da hinzugehen!«
»Es war Sonntag!«
»Ihr habt eine alte schwarze Arbeiterin besucht, nicht wahr? Eine gewisse Madalena.«
»Ja, aber … Sie wollen uns von der Schule werfen, weil wir Dona Madalena besucht haben?«
»Es war Sonntag!«, wiederholte Paulo. »Wir haben nicht geschwänzt und auch sonst nichts getan!«
»Die Frau ist heute Nacht gestorben.«
Er brauchte sie nicht anzusehen, um zu wissen, welchen Eindruck seine Worte machten. Er hörte sie keuchen.
» Abundans cautela non nocet. Der heilige Augustinus. ›Vorsicht, selbst übertriebene, schadet nicht.‹ Ihr könnt wieder zurück in euer Klassenzimmer.«
Er trat weg vom Fenster und setzte sich wieder, während Paulo und Eduardo wie betäubt zur Tür gingen.
»Und noch etwas!«
Die Jungen drehten sich um, um zu hören, was er sagte.
»Hütet euch vor schlechter Gesellschaft. Kennt ihr das Wort pädophil? Schlagt es im Wörterbuch nach. Es ist gefährlich, sich mit einem ehemaligen Koch herumzutreiben, einem aktenkundigen Kommunisten, der sich als Pfarrer ausgegeben hat, um ein Waisenhaus für junge Mädchen aufzusuchen. Ihr könnt gehen.«
Die Nonne ging langsam über den Hof des Altersheims, ohne auf die schlammigen Pfützen zu achten, die vom nächtlichen Regen übrig geblieben waren und den Saum ihrer braunen Kutte beschmutzten. Stattdessen musterte sie jedes einzelne Gesicht.
Sie suchte jemanden.
Die Luft war kalt. Einige der Alten hatten sich in Decken gehüllt, andere hatten sie um ihre Köpfe gewickelt: Sie wären lieber drinnen geblieben, aber das Sonnenbad war Pflicht.
Endlich fand sie den Mann, den sie suchte, in einer Ecke, das Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne zugewandt.
Er war unrasiert, und seine weißen Haare fielen ihm wirr in die Stirn. Auf dem Tisch vor ihm stand ein Schachbrett. Er schien zu schlafen.
Sie baute sich so vor ihm auf, dass sie ihm die Sonne verdeckte. Keine Reaktion. Sie räusperte sich. Er rührte sich nicht.
»Sie spielen Schach!«, sagte sie mit lauter Stimme.
Sofort schlug der Alte die Augen auf. Er betrachtete sie, ohne zu verstehen, was die Frau von ihm wollte.
»Schach.« Sie zeigte auf das Brett. »Das wollte ich schon immer mal lernen.«
Verlegen rückte er auf seinem Stuhl hin und her, schloss den obersten Knopf seines Schlafanzugs.
»Sie …?«, stammelte er, als er die Direktorin des Waisenhauses Santa Rita de Cássia erkannte.
»Sie gestatten?«, fragte sie, zog sich einen Stuhl heran und nahm ihm gegenüber Platz. Sie blickte ihn offen an. »Spielen Sie oft? Haben Sie hier gute Gegner?«
»Hier kann keiner spielen«, brachte er nach einem kurzen Moment hervor. »Und es will auch keiner lernen.«
»Wie bedauerlich. Dann spielen Sie also gar nicht?«
»Doch. Ich meine, ich spiele allein. Aber das ist stinklangweilig und … Verzeihen Sie meine Ausdrucksweise«, entschuldigte er sich, »das ist mir so herausgerutscht.«
»Keine Sorge, heutzutage weiß sowieso kaum noch jemand, dass dies ein ungebührlicher Ausdruck ist. Was wollten Sie sagen?«
»Es ist ein wenig langweilig. Immer alleine spielen ist langweilig. Das endet dann, wie Sie gerade gesehen haben, damit, dass ich vor den Figuren
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