Der letzte Tag der Unschuld
stand auf.
Schritt um Schritt ging er zu der Wand, die die beiden Zimmer voneinander trennte, und legte das Ohr daran.
Es war seine Mutter, die stöhnte.
»Unser Land hat siebzig Millionen Einwohner, von denen siebzig Prozent auf dem Land leben …«, diktierte der junge Lehrer Wilson Pinto langsam. Er trug eine dicke Brille, und sein Gesicht war von Aknenarben übersät. »Obwohl im Bildungsbereich große Fortschritte zu verzeichnen sind, seit die Regierung Getúlio Vargas’ in den vierziger Jahren Maßnahmen zur Bekämpfung des Analphabetismus ergriffen hat, können viele Brasilianer noch immer nicht lesen und schreiben: laut der Volksbefragung im vergangenen Jahr fast die Hälfte der Bevölkerung, genauer gesagt, sechsundvierzig Komma sieben Prozent. Schreibt ihr mit? Spreche ich zu schnell? Sechsundvierzig Komma sieben Prozent, ja.«
Paulo versuchte vergebens, die Aufmerksamkeit Eduardos zu erlangen, der mit gesenktem Kopf mitschrieb, ohne nach rechts oder links zu sehen. Seit Schulbeginn hatte er kein Wort mit ihm gewechselt.
»Zum ersten Mal in der wechselvollen Geschichte unserer Demokratie«, fuhr der Staatskundelehrer fort, »hat eine zivile, direkt gewählte Regierung eine andere, ebenfalls in allgemeinen Wahlen gewählte Regierung abgelöst.«
Alle schrieben Wort für Wort mit. In der Klassenarbeit würden die Prozentzahlen und Daten genau so abgefragt werden. Paulo beschloss für sich, dass allgemeine und direkte Wahlen wohl ein und dasselbe waren.
»Bemerkenswert ist weiterhin, dass seit der Ausrufung der Republik im Jahre … Wann? Genau, Senhorita Maria da Conceição Petagna: 1889. Dass also in zweiundsiebzig Jahren Republik ebenfalls zum ersten Mal in unserer Geschichte in direkter Wahl ein Kandidat der Opposition an die Macht gekommen ist …«
Das plötzliche Unterbrechen des Diktats, um eine Frage zu stellen, war einer der Tricks des jungen Lehrers, um die Schüler bei der Stange zu halten. Eigentlich fand Paulo das Thema interessant, aber die endlose Folge von Zahlen langweilte und verwirrte ihn. Er musste sich zusammenreißen, um dem eintönigen Singsang zu folgen.
»5.636.623 Wähler haben an den Urnen für den ehrenwerten Senhor Jânio da Silva Quadros gestimmt und ihm damit zum Sieg verholfen, einem Lehrer aus Mato Grosso, der zuvor Gouverneur … welches Staates war? Wer weiß es? Ganz genau, Senhor Mauro Dolinsky: Jânio Quadros war Gouverneur des Staates São Paulo. Er gewann mit einer überwältigenden Mehrheit eine historische Wahl, die …«
Jemand klopfte. Lehrer Wilson diktierte weiter, während er zur Tür ging.
»… ihm einen Vorsprung von mehr als zwei Millionen Stimmen gegenüber dem Kandidaten mit den zweitmeisten Stimmen verschaffte, dem Marschall Henrique Duffles Teixeira Lott, und damit den größtem Sieg, der jemals …«
Er brach ab, als er die Sekretärin des Schuldirektors vor sich sah. Sie hielt ihm einen zusammengefalteten Zettel hin, den er gleichgültig entgegennahm. Die Frau wartete. Er faltete den Zettel auseinander und las.
»Eduardo José Massaíni!«, rief er dann und ließ den Blick suchend über die Dutzende von Köpfen vor ihm schweifen. »Bist du da?«
»Massaranni, Herr Lehrer«, korrigierte Eduardo, stand auf und hob die Hand. »Das bin ich. Eduardo Massaranni.«
»Und wer ist Paulo Roberto Antunes?«, fragte der Lehrer, nachdem er wieder auf den Zettel in seinen Händen geblickt hatte.
Paulo erhob sich.
Jaime Leonel Miranda de Macedo, Rektor des Colégio Municipal Maria Beatriz Marques Torres, winkte sie herein, ohne den Blick von den Papieren zu heben, die er gerade unterschrieb.
»Wärt ihr bitte so freundlich, die Tür zu schließen?«
Die Stimme kam Eduardo vage bekannt vor. An wessen Stimme erinnerte sie ihn? Und wo hatte er sie schon einmal gehört? Paulo betrachtete die beiden gerahmten Porträts an der Wand hinter dem Tisch des Rektors. Er erkannte sie: Das eine war ein stark retuschiertes Foto von Senator Marques Torres mit gewichtiger Miene, dasselbe, das in der Bahnhofshalle und an dem Obelisken hing, der den Kilometer eins der neuen Landstraße in die Hauptstadt markierte. Der kurzsichtige Mann auf dem rechten Foto, mit der Präsidentenschärpe, war Jânio Quadros.
»Kommt her. Näher ran.«
Es war nicht die Stimme, die Eduardo vertraut war. Es war der Tonfall. Die Art und Weise, wie er mit ihnen sprach. Warm. Freundlich. Aber distanziert. Das erinnerte ihn an jemanden. Oder an eine Situation. Der Widerhall eines
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