Der letzte Tag der Unschuld
Ortes, wie ein Echo. Kalt.
»Noch näher, meine jungen Freunde.«
Der Rektor sprach mit ihnen wie jemand, der …
»Nun denn …«, sagte er und hob endlich die müden Augen hinter der Lesebrille. »Wie läuft die Schule?«
Es klang wie die Stimme von …
»Nun?«
In der Messe! Das war’s: wie der Pater bei der Messe! Eine leiernde Stimme, die zwischen den Marmorwänden der Kathedrale hin und her huschte wie die Windstöße, die die weiße Spitze der leinenen Altartücher anhoben.
»Gut«, antwortete Paulo knapp.
»Alles bestens, Herr Direktor.«
»Seid so freundlich und nennt mich nicht Herr Direktor. Das ist nicht nötig. Ich leite diese Erziehungsanstalt nur für eine begrenzte Zeit, sozusagen vorübergehend, und bin der Ehre dieses Amtes, offen gesagt, gar nicht würdig. Und doch erfülle ich meine Pflicht wie ein Soldat, der für ein Ideal in den Kampf zieht, das ihm Kraft verleiht. Mein Ideal ist es, Kultur zu säen. Das Licht des Wissens. Die Saat der Zukunft. Direktor? Nein, nein. Herr Lehrer. Nennt mich einfach nur Herr Lehrer. Oder Professor Macedo. Wie es euch beliebt.«
Er nahm die Brille von der Nasenspitze und legte sie auf den Tisch.
»Und als euer Lehrer habe ich euch rufen lassen.«
Er rückte die vor ihm liegenden Papiere zurecht.
»Weil sich die Aufgaben eines Lehrers nicht auf den Klassenraum beschränken.«
Er schraubte den vergoldeten Deckel auf den grünen Füllfederhalter, ein amerikanisches Importprodukt.
»Ein Lehrer muss den Schülern auch den Weg weisen, ihr Tutor sein, ein zweiter Vater. Quod habeo tibi do . ›Was ich besitze, gebe ich dir.‹ Ich möchte …«
»Falls es wegen dem Schmuddelheft ist …«, fiel ihm Paulo ins Wort, »das ist meine Schuld.«
»Nein, meine«, mischte sich Eduardo ein. »Ich habe es mit ins Klassenzimmer gebracht!«
Macedo schwang sich in seinem Drehstuhl nach links, nach rechts, nach links, hielt an, sah an die Decke und dann wieder die beiden Jungen an. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch, faltete die Hände, legte sein Kinn darauf und wandte sich direkt an Eduardo.
»Deine Portugiesischlehrerin hat deine Aufsätze sehr gelobt. Dona Odete Silveira hat mir gesagt, dass du sehr gut schreibst …«, er schielte auf den Karteikarten, die er zuvor herausgesucht hatte, nach dem Namen des langen, dünnen Schülers, »… Eduardo.«
Dann sah er Paulo an, als müsste er überlegen, was er ihm sagen könne.
»Auch deine …«, wieder konsultierte er die beiden Karteikarten, um die Namen nicht zu verwechseln, »… deine Aufsätze, Paulo … Paulo Roberto. Deine auch, Paulo Roberto. Dona Odete findet deine Aufsätze erfrischend. Voller grammatikalischer Fehler, das ja. Aber die Portugiesischlehrerin sagte, sie seien erfrischend. Originell, so hat Dona Odete Silveira deine Aufsätze erst kürzlich hier in diesem Büro genannt. Der Mathematiklehrer sieht keinen Grund zur Klage. Der Englischlehrer auch nicht. Und Mademoiselle Célia hat sogar deine Aussprache beim Vorlesen französischer Sätze gelobt …«, wieder konsultierte er die Karteikarte, »… Eduardo. Andererseits haben sich manche Lehrer über eure Unaufmerksamkeit beklagt, über eine gewisse Aufsässigkeit, besonders bei dir …«, ein erneuter Blick in die Karteikarte, »… Paulo Roberto. Aber alle sind sich darin einig, dass du … und du … dass ihr gute Voraussetzungen mitbringt. Ihr müsstet nur fleißiger sein, euch mehr anstrengen. Euch zum Beispiel mehr für Grammatik interessieren, bei der Wort- und Satzanalyse größere Mühe geben.«
»Ja, Herr Direktor.«
»Herr Lehrer.«
»Herr Lehrer«, korrigierte sich Paulo zögernd.
Der Mann zog die Hände unter dem Kinn hervor, entfaltete sie und lehnte sich leicht in seinem Stuhl zurück.
»Seht ihr? Ich bin über eure schulische Entwicklung bestens informiert. Ich interessiere mich für jeden einzelnen meiner vierhundertsechsundzwanzig Schüler. Ich beobachte ihre Fortschritte. Ich bin im Bilde über ihre Schwierigkeiten. Ich kenne ihre Namen. Ich kenne ihre Eltern. Ich weiß, wo sie wohnen. Ich weiß, was sie tun. Dein Vater heißt Roberto Mazaíni, nicht wahr, Eduardo?«
»Massaranni, Herr Lehrer. Mit Doppel-S und Doppel-N. Das ist ein italienischer Familienname.«
»Ein Kind von Einwanderern. Ich weiß. Sie wurden ins Land geholt, um nach der Abschaffung der Sklaverei auf den Kaffeeplantagen zu arbeiten. Dann sind sie in die Städte abgewandert, wo das Leben leichter ist. Dein Vater arbeitet bei der Bahn,
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