Der letzte Tag der Unschuld
wegdöse.«
»Und trotzdem nehmen Sie das Schachbrett immer wieder mit in den Hof.«
»Ja. Die Macht der Gewohnheit.«
»Hatten Sie da, wo Sie vorher gewohnt haben, Gegner?«
»Manchmal.«
»War das auch ein Altersheim?«
»Eine Schule.«
»Waren Sie dort Lehrer?«
Er antwortete nicht.
»Zum Spielen braucht man einen Gegenspieler, finden Sie nicht? Wie zu so vielem im Leben.«
Der Alte tastete nach seinen Zigaretten, fand aber keine in der Tasche seines Pyjamaoberteils. Dann fiel ihm ein, dass sie bei seinem Gang durch den Regen unbrauchbar geworden waren und er am Sonntag keinen Fuß vor die Tür gesetzt hatte.
»Aber ein Gegenspieler erfordert gegenseitiges Vertrauen. Oder zumindest, dass eine Seite die andere Seite für einigermaßen intelligent hält.«
»Schwester, als ich ins Waisenhaus kam, hatte ich nicht die Absicht …«
»Waisenhäuser und Altersheime haben vieles gemeinsam. Natürlich gibt es Unterschiede, angefangen beim unterschiedlichen Alter ihrer Bewohner. Aber das Grundprinzip ist bei Altersheimen und Waisenhäusern das gleiche, verstehen Sie?«
»Wie meinen Sie das?«
»Beide sind dazu da, diejenigen wegzusperren, für die die Gesellschaft keinen Platz oder keine Verwendung mehr hat. Oder noch keine Verwendung.«
Sie schwiegen. Die Nonne saß kerzengerade vor ihm. Dann sagten beide fast gleichzeitig:
»Sie …«
»Sie …«
»Ja …?«
»Als ich Sie im Waisenhaus besucht habe, wollte ich …«
»Warum leben Sie nicht bei Ihren Verwandten?«
Ihre Neugier war direkt wie die eines Kindes. Er antwortete, ohne nachzudenken, als spräche er tatsächlich mit einem Kind: »Ich habe keine.«
»Kinder?«
»Nein. Helena ist gestorben, bevor wir welche kriegen konnten.«
»Sie sind Witwer?«
»Wir sind nicht dazu gekommen zu heiraten.«
»Sie gehören nicht zur gleichen Gesellschaftsschicht wie die übrigen Heimbewohner.«
»Da täuschen Sie sich.«
»Ihre Ausdrucksweise, Ihre Manieren, Ihr Vokabular, Ihre Erziehung …«
»Schwester, ich heiße nicht …«
»Basílio. Natürlich nicht. Ich habe niemals Eça de Queiroz gelesen. Natürlich weiß ich, wer er ist. Aber ich habe niemals auch nur ein Exemplar seines Romans Der Vetter Basílio zu Gesicht bekommen. Die Heilige Mutter Kirche missbilligt das Bild, das Eça de Queiroz von Patern und Vettern zeichnet. Die antiklerikale Ironie Ihrer Namenswahl war mir vollkommen entgangen.«
»Das war keine Ironie, glauben Sie mir. Und auch kein Spott. Dieser Basílio …«
»Sie wollen mir also weismachen, dass Sie den Namen zufällig gewählt haben.«
»Mein Talar gehörte in Wirklichkeit einem Pater Basílio, den die Jungen …«
»Woher genau aus dem Nordosten kommen Sie?«
»Ich bin in Sergipe geboren.«
»Ich war noch nie in Sergipe.«
»Aber ich bin schon als junger Mann nach Recife gezogen.«
»Das kenne ich auch nicht. Ich bin in meinem Leben wenig gereist. Sie hingegen sind sicher viel herumgekommen und haben viel gesehen. Viel von Brasilien. Den Nordosten zum Beispiel kenne ich gar nicht und werde ihn vielleicht nie kennen lernen. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass ich jemals hier rauskomme. Und wenn doch, dann nur, um an einem anderen Ort hinter anderen Mauern und Wänden zu sitzen. Sie wirken heute so verdrossen.«
Sie musterte ihn so aufmerksam, dass er verlegen den Blick senkte.
»Sie haben Ringe unter den Augen, sind blass und unrasiert, Sie haben sich nicht … Ich bin überrascht, Sie hier im Pyjama anzutreffen wie die anderen alten Männer. Ich habe Sie für mehr … Wie soll ich sagen …«
»Normalerweise bin ich nicht … Normalerweise ziehe ich mich gleich morgens an. Wie ich es mein Lebtag getan habe. Nur weil ich hier bin, werde ich mich nicht … Werde ich nicht aufhören … darauf zu achten, ob noch Nacht oder schon Morgen ist, noch Morgen oder schon Nachmittag, noch Nachmittag oder schon Abend. Nicht, dass die Zeit verstreicht, macht mir Angst: Ich will nicht, dass sie mir wie aus einem Block vorkommt. Nur heute, da … da fühle ich mich so … müde. Bitte entschuldigen Sie, dass ich mich in diesem Aufzug unter den Leuten zeige.«
»Ist etwas passiert seit Ihrem Besuch im Waisenhaus?«
Wieder wich er ihrem Blick aus.
»Ich wollte mich nicht über Sie lustig machen. Die Verkleidung war lächerlich, aber ich hatte nicht die Absicht … Ich wollte nur … etwas in Erfahrung bringen … etwas … ich … Entschuldigen Sie, aber …«
»Sie scheinen wirklich verdrossen zu
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