Der letzte Tag der Unschuld
nicht wahr? Beamter bei der Zentralbrasilianischen Eisenbahngesellschaft.«
»Ja, Herr Lehrer.«
»Und deine Mutter, Dona Rosangela, ist Schneiderin.«
»Ja, Herr Lehrer.«
»Dein Vater, Paulo Roberto, ist Besitzer eines Schlachthofs.«
»Ja.«
»Du hast schon früh deine Mutter verloren. Sie ist gestorben, als du vier warst. Ihr Name war Maria José, nicht wahr? Bevor sie krank wurde, hat sie als Weberin in der Textilfabrik gearbeitet.«
Es war das erste Mal, dass Eduardo den Namen der Mutter seines Freundes hörte. Als wäre sie eine lebende Person. Maria José. Er fügte den Namen zu seiner Vorstellung von dem kleinen Schwarz-Weiß-Foto der mageren dunkelhäutigen Frau mit den leicht vorstehenden Zähnen hinzu, das er nie gesehen hatte, weil es in der Brieftasche eines Mannes steckte, der seinen Sohn nie beim Namen nannte.
»Denkt nur! Ein Schlachter. Ein Bahnbeamter. Eine Schneiderin. Und eine Arbeiterin in einer Textilfabrik … Wie stolz müssen eure Eltern auf euch sein! Wie stolz wäre deine Mutter, Dona Maria José, wenn sie noch lebte, Paulo Roberto! Dass ihre Kinder in die Schule gehen, dass sie lernen wie … wie die Kinder von studierten Leuten. Als eure Eltern in eurem Alter waren, war das undenkbar. Leute wie ihr, mit eurer Herkunft, gehen aufs Gymnasium, euch steht alles offen, eine ganze Bandbreite von Möglichkeiten, die dein Vater, der Schlachter, niemals hatte, Paulo Roberto. Und auch dein Vater, der Eisenbahner, nicht, Eduardo.«
»Wenn Sie das sagen, weil ich im Lateinunterricht eingeschlafen bin …«, setzte Paulo an.
» Quaerentibus bona vix obveniunt; mala autem etiam non quaerentibus. ›Das Gute widerfährt nur selten dem, der es sucht; das Schlechte aber widerfährt selbst denen, die es meiden.‹ Irren ist menschlich, Paulo Roberto. Aber indem wir unsere Irrtümer erkennen, lernen wir, sie nicht zu wiederholen, nicht wahr?«
»Ja.«
»Da haben Sie Recht.«
»Als eure Eltern so alt waren wie ihr, mussten sie schon arbeiten und hatten kaum lesen gelernt. Heute bringen sie gewaltige Opfer, sparen das wenige Geld, das sie verdienen, verzichten auf neue Schuhe und Kleidung für sich selbst, setzen Himmel und Hölle in Bewegung, damit ihr studieren könnt und eines Tages möglicherweise zur Elite unseres Landes gehört, nicht wahr? Und das alles ist nur deshalb möglich, weil es diese Schule gibt, die ihr besuchen dürft. Gratis. Eine öffentliche Schule. Die einzige weiterführende Schule weit und breit, die nichts kostet. Und die Verwirklichung dieser großartigen Idee haben wir allein der Weitsicht und demokratischen Gesinnung unseres Gründers Doutor Diógenes de Almeida Marques Torres zu verdanken.«
Wieder drehte sich der Stuhl: links, rechts, links. Hielt an. Der Rektor beugte den Oberkörper über den Tisch, die Hände unter dem Kinn gekreuzt. Lächelte leicht. Hob kaum merklich die salbungsvolle Stimme.
»Versteht ihr, dass eure Eltern auf die besten Dinge des Lebens verzichten, um euch einmal zu wohlhabenden Männern zu machen? Euch eine bessere Zukunft zu ermöglichen? Ein besseres Leben, als sie es je hatten? Ja oder nein?«
»Ja. Ich denke schon, Herr Direktor«, stimmte Eduardo aus ganzem Herzen zu.
»Herr Lehrer, nenn mich Herr Lehrer. Glaubst du nicht auch, Paulo?«
»Doch.«
»Ihr seid zwei … talentierte Jungen … junge Männer. Wer weiß, ob ihr nicht eines Tages … Was möchtest du einmal werden, Eduardo?«
»Ingenieur.«
»Und du, Paulo Roberto?«
»Wissenschaftler.«
Beinahe lächelte er. Seine Stimme klang, als öffneten sich ihnen die Pforten des Paradieses.
»1961! Wir sind in der zweiten Hälfte eines außergewöhnlichen Jahrhunderts angelangt! Wir haben zwei große Kriege überstanden! In beiden hat die Demokratie gesiegt! Die Werte des Humanismus haben gesiegt! Die Wissenschaft macht beständig Fortschritte! Unser Land brodelt geradezu vor Fortschritt und Freiheit! Diese zweite Hälfte unseres Jahrhunderts erweist sich als die beste Zeit, die die Menschheit im Laufe ihrer Geschichte erlebt hat! Wir leben in einer Zeit des Friedens, des Fortschritts, des gesellschaftlichen Aufstiegs. Ihr lebt in einer wunderbaren Zeit! Großartig! Einfach großartig. Sehr schön. Sehr schön. Ein Wissenschaftler und ein Ingenieur also. Sehr schön. Ein zukünftiger Oswaldo Cruz und ein zukünftiger Paulo de Frontin! Bestens. Ausgezeichnet.«
Er breitete die Arme aus und zeigte auf die Wände um sie herum.
»Denkt nur, welche Möglichkeiten euch
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