Der letzte Tag der Unschuld
kaputt gemacht.«
Er ging zwischen ihnen beiden hindurch ins Haus, auf den Speisesaal des Altersheims zu. Eduardo und Paulo folgten ihm. Durch die Tür des Speisesaals drang das übliche Stimmengewirr und Klappern von Tellern und Besteck. Der Geruch nach warmem Essen stieg Paulo in die Nase, ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen und erinnerte ihn daran, dass er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte.
»Der Zahnarzt ist nicht der Mörder«, sagte Eduardo zu sich selbst, im vergeblichen Versuch, Ubiratans Gedankengang zu folgen. »Aber unschuldig ist er auch nicht …«
Ubiratan blieb stehen. Die Jungen sahen ihn mit glänzenden Augen an. Vielleicht war es nur der Widerschein irgendeines Lichts im Altersheim, vielleicht kam der Glanz aber auch daher, dass sie allmählich die Gewissheit der Unschuld gegen die Wirren des Erwachsenendaseins eintauschten – jedenfalls verspürte der alte Mann mit einem Mal die ungeheure und – wie er wusste – vergebliche Sehnsucht, sie zu beschützen.
»Die Dinge sind nicht, was sie scheinen«, sagte er mit einer Wärme, die ihn selbst überraschte. »Eduardo. Paulo. Das ist eine Binsenweisheit. Aber sie ist wahr. Ich habe Hunger.«
»Ich auch«, sagte Paulo, während er sich den Kopf zerbrach, wie um Himmels willen er es schaffen sollte, sich ins Haus zu schleichen, den Lehm abzuwaschen und das kaputte Fahrrad zu verstecken, ohne gesehen und bestraft zu werden.
»Wir gehen jetzt. Meine Mutter macht sich Sorgen, wenn ich zu spät komme.«
»Warum seid ihr so schmutzig?«
»Ubiratan, haben Sie nicht gehört …«
»Ich bin müde und am Verhungern. Ich war den ganzen Tag unterwegs. Bis zum Friedhof bin ich gegangen. Mögt ihr Opern?«
»Opern?«, fragte Paulo verwundert.
»Ich habe mal eine bei meinem Nonno gehört. Der mochte das.«
»Ich würde gerne mal mit euch in Tosca gehen. Giacomo Puccini. Wunderschön. Aber nicht heute. Heute habe ich andere Pläne für uns.«
Sie konnten ihm nicht folgen, also versuchten sie es gar nicht erst. Sagarana , Mao, Guernica, Graciliano – sie hatten schon so viele fremde Namen gehört, die sie würden nachschlagen müssen, dass es auf einen mehr auch nicht ankam. Ubiratan war in seine eigenen Gedanken versunken, und sie konnten ihn nicht erreichen. Zeit, nach Hause zu gehen, beschlossen sie.
»Na gut, also dann tschau«, verabschiedete sich Paulo lustlos.
»Bis morgen, Ubiratan.«
Sie ließen ihn stehen und trotteten durch den Korridor hinter der Küche davon. Paulo ging ein Stückchen voraus, getrieben von Hunger und der Angst, zu Hause wieder einmal durch das Schiebefenster im Bad hineinklettern zu müssen. Die letzten Male hatte er festgestellt, dass es ihm immer schwerer fiel, sich hindurchzuzwängen. Vielleicht war er gewachsen. Kräftiger geworden. Ob es daran lag? Hoffentlich. Und er hoffte, dass sein Vater noch nicht zu Hause war, dass er es nicht eilig hatte heimzugehen, sondern in irgendeiner Kneipe noch ein Bier trank. Hoffentlich trank er noch ein Bier, weil er es nicht eilig hatte, nach Hause zu kommen, weil er die Nacht mit Antonio im Puff verbringen würde. Hoffentlich …
»Paulo und Eduardo!«, hörte er Ubiratan rufen.
Er stand noch da, wo sie ihn verlassen hatten, aus der Entfernung kaum mehr als eine verschwommene Silhouette inmitten der Schatten.
»Niemand trägt in einer Gefängniszelle Anzug und Krawatte«, sagte er sanft. »Und auch keinen Gürtel. Und keine Schnürsenkel. Das ist nicht gestattet.«
Eduardo blickte von Ubiratan zu Paulo, dann wieder zu dem Alten und hätte beinahe etwas gefragt wie »Und wie hat er sich dann umgebracht?« Aber um seine Zweifel in eine Frage zu fassen, hätte er über Dinge Bescheid wissen müssen, die er noch nicht erfassen konnte. Also sagte er nichts. Er hörte, wie Paulo fragte: »Nie?«
»Nie. Auf keinen Fall. Geht ihr gerne ins Kino?«
Schon wieder ein plötzlicher Themenwechsel. Aber diesmal überraschte er sie nicht. Schnürsenkel, Gürtel, Krawatten, Jackett, Kino: warum nicht? Allmählich gewöhnten sie sich an die seltsamen Schlussfolgerungen des Mannes, der vor ihnen im Halbdunkel stand, und so nickten sie.
»Prima. Ich war schon lange nicht mehr im Kino. Aber heute möchte ich mir einen Film ansehen. Heute gehen wir drei ins Kino.«
»Ach, wir können nicht«, klagte Eduardo. »Der Film ist erst ab vierzehn.«
»Das kriegen wir schon hin«, sagte Ubiratan achselzuckend, wandte sich um und verschwand im Speisesaal.
Während Anita
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