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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
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weg.«
    »Wer spricht leise?«
    »Der Fabrikbesitzer. Der Mann dort neben dem Polizeipräsidenten.«
    »Nein, Eduardo! Ich meine, worüber die Leute hier reden.« Er zeigte auf die Umstehenden.
    »Wer?«
    »Alle. Darüber, was der Zahnarzt gemacht hat.«
    »Was hat er denn gemacht?«
    Noch bevor Paulo antworten konnte, wurden die Stimmen um sie herum leiser. Alle Blicke richteten sich nach vorn: auf den von Polizisten getragenen Sarg, der in der Tür des Polizeipräsidiums erschienen war. Geraldo Bastos und der Polizeipräsident mussten auseinandergehen, um ihn hindurchzulassen.
    »Er hat sich umgebracht«, schrie Eduardo, kaum dass sie im Hof waren.
    »Aufgehängt«, fügte Paulo hinzu und rannte auf Ubiratan zu, der unter der einzigen Lampe saß, die die Nonnen hatten brennen lassen. Er sah große und kleine Zettel mit Aufzeichnungen durch, die über einen der Tische verstreut waren. Das kleine Spiralheft, das er immer mit sich trug, lag auch dabei. Gerade eben nahm er einen Zettel, zerknüllte ihn und steckte ihn in die Tasche, ohne die näherkommenden Jungen zu beachten.
    »Er hat sich an seiner Krawatte aufgehängt!«
    »Die hatte er ans Fenstergitter geknotet.«
    »Und dann ist er gesprungen!«
    »Eben gerade!« Wie immer war Paulo schneller und als Erster am Ziel. »Es ist eben gerade passiert.«
    Ubiratan nahm zwei kleinere Zettel und ordnete sie neu, indem er auf jeden von ihnen einen Stapel schmalere Blätter legte. Auf allen Blättern waren Daten, Namen und Beobachtungen verzeichnet. Der ganze Tisch war voll davon.
    »Der Sarg …«, keuchend war nun auch Eduardo am Tisch angelangt, »der Sarg wurde gerade aus dem Polizeirevier rausgetragen, als wir …«
    Ubiratan unterbrach ihn.
    »Kennst du Schneewittchen ? Habt ihr den Film gesehen?«
    »… mit unseren Fahrrädern vorbeikamen.«
    » Schneewittchen «, wiederholte Ubiratan.
    »Die Leute haben gesagt, er hätte sich aufgehängt, aber Eduardo hat nicht mal gemerkt, dass …«
    »Ich habe nicht gehört, wie die Leute gesagt haben, der Zahnarzt hätte sich aufgehängt, weil …«
    »Eduardo hat gar nichts mitgekriegt.«
    »Ich habe mich bloß gewundert, den Fabrikdirektor dort zu sehen. Nur deshalb habe ich …«
    »Und da sind sie gerade mit dem Sarg rausgekommen. Eduardo war mit seinen Gedanken ganz woanders.«
    »War ich nicht!«
    Ubiratan wurde ungeduldig.
    » Schneewittchen und die sieben Zwerge ! Habt ihr den Film gesehen?«
    »Und da haben sie den Sarg rausgetragen.«
    »Aus dem Polizeirevier.«
    »Er war zu.«
    »Es war ein zuner Sarg, keiner hat den Zahnarzt gesehen.«
    »Der Sarg war zu, Paulo.«
    »Habt ihr ihn nun gesehen oder nicht?«
    »Wir haben ihn nicht gesehen, Ubiratan! Niemand konnte ihn sehen! Er war zu! Paulo hat es doch schon gesagt und ich auch: Der Sarg war geschlossen!«
    » Schneewittchen und die sieben Zwerge ! Schnee-witt-chen-und-die-sie-ben-Zwer-ge«, wiederholte der alte Mann langsam. »Habt ihr ihn gesehen oder nicht?«
    »Ob wir was gesehen haben?«
    »Den Walt-Disney-Film.« Ubiratan sprach das W wie ein V aus. »Den Zeichentrickfilm. In Farbe. Also, was nun: Habt ihr ihn gesehen oder nicht?«
    Ratlos zog Paulo die Schultern hoch und breitete mit geöffneten Händen die Arme aus.
    »Ubiratan, wir erzählen Ihnen, dass der Zahnarzt sich …«
    »Ja oder nein?«, beharrte er und fuchtelte mit dem Stift vor ihren Gesichtern herum.
    »Ubiratan!« Eduardo versuchte, den Alten zur Vernunft zu bringen. »Ubiratan, der Zahnarzt hat sich umgebracht!«
    Keine Reaktion.
    »Wir haben gesehen, wie der Sarg aus dem Gefängnis rausgetragen wurde!«, rief Paulo dazwischen.
    »Er hat sich aufgehängt, Ubiratan! Er hat sich mit seiner Krawatte an einem Fenstergitter aufgehängt!«
    Der Alte gab ihnen mit einer Bewegung beider Hände zu verstehen, sie sollten leiser reden, und sagte, bevor sie weitersprechen konnten:
    »Er ist aus Anitas Geburtsjahr.«
    Paulo kratzte sich am Kopf und verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen.
    »Wer …?«
    » Schneewittchen . Er ist von 1937. Ob Aparecida ihn je gesehen hat?«
    »Ubiratan …«, setzte Eduardo erneut an.
    »Aus dem gleichen Jahr wie Guernica!«
    »Ubiratan, hören Sie doch …«
    »Wisst ihr, was Guernica war? Wisst ihr, was es bedeutet hat? Das Blutbad? Die Bomben? Das Massaker an Kindern, Alten und Frauen? Wisst ihr etwas darüber? Über den Aufstieg des Faschismus? Habt ihr jemals vom spanischen Bürgerkrieg gehört? Von Picasso?«
    Paulo hätte schreien und mit

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